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Alltag im Sinnen
Der "Frieden" wird fünfzig
1.
Eine zweiunddreißigjährige Frau steht mit ihren zweiunddreißig
Kilogramm Körpergewicht zusammen mit etlichen Leuten seit
Tagen in einem Waggon, der mit anderen Waggons anscheinend ziellos
durchs nördliche Deutschland fährt. Der Waggon ist nicht
eben komfortabel, aber immerhin kommt die Frühlingssonne
durch die kleinen Fenster und durch die Ritzen. Das Innere des
Waggons ist kahl, einige Kübel sind vorhanden, ansonsten
stehende, kauernde, liegende Leute. Von Zeit zu Zeit werden die
Türen geöffnet, die Kübel ausgeleert, Verstorbene
herausgenommen, Suppe und Brot - wenn vorhanden - hineingeschoben.
Die Frau steht heute in der Nähe der Tür, als diese
wieder einmal geöffnet wird. Einige ältere Herren in
anderer Uniform als bisher - graugrün - werfen Stroh in den
Waggon hinein. Stroh und nochmals Stroh. Die Frau schaut stumm
fragend einen der älteren Herrn an. Er bemerkt den Blick
und sagt zu ihr:
"Ihr habt es gut."
"Wir haben es gut?"
"Sowieso. Heute ist Kriegsschluß. Ihr habt es gut."
"Wo sind wir?"
"Dänische Grenze."
"Ist heute Sonntag?"
"Achter Mai oder neunter. Ihr habt es gut. Aber was wird
aus uns?"
Der Herr von der Feldpolizei schaut bekümmert.
"Es wird schon werden", sagt meine Mutter, die nie um
einen Trost verlegen ist.
So fährt sie mit den andern weiter nach Schweden und wird
behutsam aufgefüttert. Manche, die zu gierig zu essen beginnen,
müssen noch sterben. Sie ist von Auschwitz, zuletzt von Ravensbrück
angereist gekommen, über Berlin und Hamburg, gelegentlich
von einem Bahnhof zu Fuß zum andern, von den verhärmten
Einwohnern beglotzt, häufig auch Rümpfnasen wegen des
Gestankes, Ausspucke, weil Häftlinge. Nun ist diese Reise
zu Ende. Nun kann sie ihre Toten zählen und zuversichtlich
in den Frieden starren, der zu Anfang eine schüchtern lächelnde
Maiengestalt ist.
Das Totezählen lässt sie schnell bleiben, das wird später
der in Wien überlebt habende Sohn besorgen. Die Hinrichtung
ihres Freundes - meines Vaters - in Dachau deprimiert sie zwar
schrecklich, doch nun gilt es, ein freies, demokratisches Österreich
zu errichten. Die junge Frau ist nicht nur ein Untermensch gewesen,
sie ist zusätzlich eine Kommunistin geblieben; daher trachtet
sie, so schnell wie möglich ins zerbombte Wien heimzukehren,
ihren Sohn etwelchen Pflegeeltern mit Dank wegzunehmen und aufzubauen:
neue Häuser, neue Gesellschaft, neue Menschen. Im August
trifft sie in Wien ein, findet mich, denn sie erkennt mich am
Muttermal an meinem rechten Unterarm, und dann geht's los.
Den Frieden füttern, den Frieden warm halten, dem Frieden
die Angst nehmen, den Frieden laufen lehren, sprechen, lachen.
Die Toten in Riga, in Auschwitz-Birkenau, in den Wolken, im Erdreich,
sinken immer mehr ab, verschwinden in der langen Nacht, ihre Namen
verschimmeln.
Die ersten demokratischen Wahlen, die österreichischen Genossen,
die Sowjetischen Genossen, die Kinder von Genossen - so klein,
aber schon Genossen -, wo ich hinschaue Genossen. Der Friede ist
ein Genosse.
2.
Ich bin ein Jahr älter als der Friede. Er als mein jüngerer
Bruder war aber immer schon da, wie das so ist, wenn Brüder
im Alter so nah beieinanderliegen.
Ich wachse in der Kommunistischen Partei auf, durchlaufe die Kinder-
und Jugendorganisationen. Die KP ist durchtränkt von Frieden.
Die Friedenstaube des Picasso, das Friedenslied des Brecht, der
Weltfriedenskongreß. Das erste schwierige Wort, das ich
aussprechen kann, ist das Wort Völkerverständigung.
Doch daweil ich mit dem Frieden spiele - der junge Friede ist
ein sehr guter Fußballer -, kommen seltsame Geschichten
an mein Ohr:
Nieder mit der faschistischen Titoclique, höre ich. Eben
war Tito noch ein Genossen gewesen. Die Genossen, die eine Tante
in Jugoslawien haben und sie auch besuchen, sind plötzlich
amerikanische Spione. Meine Tanten sind alle vergast, ich bleibe
ein treuer Jungkommunist. Bürgerkrieg in Griechenland. Hände
weg von Korea. Der Osten ist rot, China ist jung.
Der Frieden führt Krieg? Gegen wen? Gegen den Krieg. Ein
Frieden, der nicht Krieg gegen den Krieg führt, ist kein
Frieden, sonder Pazifismus. Da die amerikanischen Imperialisten
und die westdeutschen Revanchisten den Weltfrieden bedrohen, muß
dieser in Gestalt der friedliebenden Sowjetunion gegen die Kriegstreiber
auf der Wacht sein. Diese Friedensliebe verkörpert sich im
Genossen Josef Wissarionowitsch Stalin. Dieser sagt: "Der
Frieden kann gesichert werden, wenn die Völker die Sache
des Friedens in ihre eigenen Hände nehmen." Der Onkel
mit der Pfeife, unser Pepi-Onkel. Eigenartig, bevor ich weiß,
was eine Verfassung ist, weiß ich, was ein Revanchismus
und ein Imperialismus ist.
Ich weiß sogar, was ein Kosmopolit ist, Ah, nicht das, was
Sie denken, kein weltoffener Bürger. Ein Kosmopolit ist ein
wurzelloses Element, und als Kommunist ist er einfach nichtkoscher.
An die Prozesse in der Tschechoslowakischen Republik und in der
Ungarischen Volksrepublik kann ich mich zwar nicht erinnern, doch
die zionistische Weltverschwörung dieser dort angeklagten
Kosmopoliten geht mich ohnedies nichts an, sowenig wie die jugoslawische
Tante, denn meine Genossin Mutter hat mich beruhigt, nachdem ich
auf der Gasse Judenbob genannt wurde:
"Juden sind religiöse Menschen", erklärt sie
mir, "wie Christen. Wir aber sind ohne Bekenntnis, daher
auch keine Juden."
Beruhigt trage ich meine Judennase wieder auf die Gasse zurück,
teile allem mit, dass ich kein Jude sei, und lache, wenn die lachen.
Schließlich erkrankt der Pepi-Onkel. Ich schreibe ihm aufs
höchste besorgt einen Brief:
"Lieber Genosse Stalin. Bitte werde wieder gesund im Interesse
des Weltfriedens. Robert Schindel, Junggardist."
Als Junggardist spiele ich mit den Gassenkindern in den Ruinen
Franzosen gegen Vietminh, wieder ein Krieg für den Frieden.
Mein Bruder, der Friede, kommt schon in jungen Jahren ganz schön
herum. Aber er ist schön, der Friede, und ich liebe auch
das Kriegerische an ihm, und so bin ich bis heute kein ordentlicher
Pazifist geworden.
3.
Der Stalinismus durchwächst eine Kinderseele. Wir Bolschewiki
sind ein besonderer Menschenschlag. Der Stalinismus benutzt den
Nationalsozialismus, um eine jüdische Kinderseele zu durchwachsen.
Ein Jude ist kein Jude, der Krieg ist der Frieden, der Frieden
ist ein Friedenskampf, manche Genossen werden Feinde, manche Feinde
werden zeitweilig Genossen wie der Fast-Genosse Hitler, aber das
war vor meiner Zeit. Inzwischen ist Tito wieder ein Genosse, aber
wie der Genosse Generalsekretär geheißen? Von der Sowjetunion
sagt mir wer: Dort ist die Zukunft gewiß, nur die Vergangenheit
ändert sich jeden Tag. Was geht mich die Vergangenheit an,
ich will Zukunft, schöne Zukunft. Dort träume ich mich
als Dichter, wie Majakowski. Damals weiß ich gar nicht,
wie er geendet hat, aber hätte ich es gewusst, ich hätte
mir gedacht, der arme Mensch hat sich plötzlich verirrt.
Wie macht man Verse?
Zwei deutsch Dichter ziehn mich weg von Majakowski. Schiller und
Kästner. Ich falle tief, ich bemerke erst gar nicht, dass
ich gegen den Stalinismus pubertiere. Von Schiller lerne ich das
Pathoswort Freiheit neu, von Kästner vielleicht das Augenzwinkern
beim Dichte. Beides versuche ich, und schon bin ich ein halbwüchsiger,
dem nichts mehr heilig ist, der an allem was auszusetzen hat.
Sogar an Chruschtschow. Dort ist das Tauwetter schon wieder vorbei,
da falle ich in die Hände von Ernst Fischer und Konsorten.
Drei Jahre später verlasse ich die Partei. Das Jahr achtundsechzig
hat noch nicht begonnen.
Spätestens jetzt wirds Zeit zu rechtfertigen, warum ich so
intensiv von mir selbst spreche, wo es doch des "Friedens"
Geburtstag zu feiern gilt. Wie schon gesagt, er ist mein jüngerer
Bruder. Vielleicht erfahren Sie etwas über ihn, wenn ich
von mir rede. Sie kennen diese Familienkrankheit. Ich bin kein
Wissenschaftler, ich brauch nicht objektiv sein. Statistiken,
Fakten können Sie nachlesen.
Mir geht es an diesem, seinem Geburtstag um das Problem der Ideologie-Infektion.
Keine Kinderkrankheit, die man wie von selbst übersteht.
Die Ideologie-Infektion hatte Blutgesauf zur Folge, und in diesem
Jahrhundert standen die großen und kleinen Führer zuhauf
an der roten Tränke. Der erste Napoleon, selbst ein großer
Blutsäufer, bezeichnete noch als Konsul der Republik einige
seiner Gegner, tatenlose Räsonierer, als Ideologen. Diesen
Kinderschuhen ist die Ideologie rasch entwachsen: als gewaltsame
Organisation von Werten zu partikulären Zwecken. Es werde
des Gute aus dem Bösen, heißt es bei Nietzsche, der
aber sogleich hinzufügt: Es werden die Zwecke aus dem Zufalle.
Während man der Französischen Revolution noch zugute
halten darf, daß aus ihr die Menschrechte, der Code Napoléon,
das allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch entsprangen, haben
die Zuspätkommenden der Weltgeschichte sich bei der profanen
bürgerlichen Gesellschaft nicht aufhalten wollen. Die radikalste
Gegenaufklärung - der Nationalsozialismus - hat nur noch
Elend und Tod verbreitet, und es bleibt wahr: "Der Schoß
ist fruchtbar noch, aus dem das kroch." Aber der Stalinismus,
der immer wieder so gern mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt
wird, war selbst eine pervertierte Form der Aufklärung. Menschheitsbeglückung
um jeden Preis, als die Leute mit dem Knüppel ins Paradies
jagen, das machte ihn ideologisch noch ansteckungsintensiver als
den Nazismus, vor allem für die "guten" Menschen,
die es mit sich nicht aushalten und nicht mit dem menschlichen
Elend - der anderen. Und das Fortbestehen der Fragen, auf die
er die falsche Antwort war, das macht vielleicht heute sein Verwesen
so quälend.
Aber gerade auch für die, die man schon jahrhundertelang
verfolgt, denen man schließlich das Menschsein abgesprochen
hatte, die man zu Untermenschen degradiert, die man deportiert
und vernichtet hatte, wo man ihrer habhaft werden konnte, war
es verführerisch, nicht nur für sich selbst oder auch
bloß ihr Volk dazusein, sonder die Welt zu verändern,
den ganzen Planeten zur Heimat, zu einem bewohnbaren Planeten
machen zu wollen. Freilich, es sollten die Einzelinteressen zurückstehen,
einstweilen. Keine Befreiung der Juden ohne Befreiung aller Werktätigen,
keine Befreiung der Frauen vor dem Sieg der Arbeiterklasse, "Keine
Emanzipation ohne die der Gesellschaft". Was Wunder, dass
sich schon früh im säkularisierten Judentum der ihm
innewohnende unterirdisch schwelende Messianismus in Sozialismus
und Kommunismus verwandelte. Dafür waren sie in Mehrheit
wieder die ersten, die über die Klinge sprangen. Aber das
sollte das Nachkriegskind erst später erfahren.
Das Durchwachsen einer Kinderseele mit Ideologie, ein Kindheitsmuster
des zwanzigsten Jahrhunderts.
Wenn ich an diesem Geburtstag von mir spreche, dann versuche ich
vorzuführen, wogegen zu pubertieren sich lohnt.
Es ist wahr: die langsame Befreiung von Ideologie geschah in meinem
Fall gefahrlos. Der kleine Stalinist im Westen kann kein wirkliches
Unheil anrichten, ebenso wenig wie der spätere Maoist, denn
Josef Stalin hat mir auf den Brief vom 1. März 1953 doch
geantwortet, und ich muß in den siebziger Jahren als äußerlich
erwachsener Mensch nochmals einen poststalinistischen Nachschlag
durchleben, damit ich mir endlich die Moskauer Schauprozesse der
dreißiger Jahre als Täter und als Opfer vorstellen
kann. Ich hatte Glück.
Es kommt mir drauf an, was aus den Kindheitsmustern wird oder
wie einer aus den Verstrickungen dieses Jahrhunderts herauskommt.
4.
Statt dessen aber sind die Gleichsetzer und Aufrechner wieder
unterwegs. In der Alltagsdiskussion sind sie leicht zu erkennen:
Auf Auschwitz folgt Dresden und Hiroshima, auf die Vernichtung
der Juden die der Indianer, den Vertreibungen der Juden wird die
der Deutschen gleichgesetzt.
Ich will mich zu diesem Thema nicht weiter verbreiten gemäß
dem Grundsatz, es möge sich jeder zu seiner eignen Schande
äußern. Vaclav Havel hat es getan.
Ich sagte schon, dass ich den Stalinismus als Beispiel meiner
eigenen Ideologie-Infektion vorbringe, nicht aber, damit andere
daraus eine Relativierung der Naziverbrechen ableiten können.
5.
Der "Frieden" ist fünfzig. Ich habe das Wort Friede
in Anführungszeichen gesetzt, denn fünfzig wurde er
in Mittel- und Westeuropa. Ich weiß nicht, wie viele große
oder kleine Kriege seither in der Welt geführt wurden, wobei
auch die kleinen Kriege für die dort Liegengebliebenen groß
genug gewesen sind.
In Südosteuropa verknüpfen sich Nazismus, Faschismus
und Stalinismus zu einem gegenwärtigen Vergangenheitstableau,
das die Gegenwart und Zukunft nun blutig einfärbt. Mir ist
sehr schweizerisch zumute, wenn ich nach Südosten blicke.
Unser Boot ist selbstverständlich voll.
Ich muß und will gerne zugeben, dass Deutschland, verglichen
mit anderen europäischen Weststaaten, viele aufgenommen hat.
Zwar haben die Franzosen ihre Araber und Vietnamesen, die Engländer
die Pakistani und Inder, die nicht berücksichtigt wurden,
wenn sich Deutschland wegen seiner Großzügigkeit rühmt,
aber dennoch soll dies vorerst anerkannt sein.
Es ist zuwenig.
Es steht den Österreichern nicht gut an, dichtzumachen, nachdem
sie damals fast zweihunderttausend österreichische Juden,
österreichische Zigeuner vertrieben bzw. zu vernichten mitgeholfen
hatten. Es steht den Deutschen nicht gut an, einerseits jeden,
der vor hundert Jahren einen deutschen Schäferhund in der
Verwandtschaft hatte, als Aussiedler anzuerkennen, aber rigid
gegen Menschen vorzugehen, die in ihrer Heimat mit dem Tode bedroht
sind.
Na ja, auch der Krieg hat seinen Frieden, er hat seine friedlichen
Stellen. In einem Winkel der Welt wird der Frieden fünfzig.
Wenn ich nachsinne. Im alltäglichen Sinnen ist aber auch
nach fünfzig Jahren der Krieg allgegenwärtig, für
mich der damalige, der sich bloß meines Unbewussten bemächtigte,
und die folgenden, die ich als Zuschauer miterleben muß:
ALLTAG IM SINNEN
Alltag im Sinnen. Täglich das Öffnen
Der Augen. Abgestanden das Morgenlicht
Hervorgeschupft die Hoden vorübergebückt
Der senkrechte Körper, neu aber
Der herausstürzende Bauch, so duscht sichs
Daweil, was vor dem Auge liegt, hereinkommt
Schon wieder hat in Bosnien mancher seinen Darm im Arm
Schon wieder fließt der Regen statt ins Erdreich
Ganzen Familien in den Schlund
Schon wieder kommt die Krankheit aus dem Mittelalter
Tafelt mit jungem Aids altneue Menschen, Trommelwirbel
Und Videoclip in einem schon wieder
Ruft die Nation die Lebenden ins Grab
Alltag im Sinnen, wunderlich der Blick
Ein Liedlein von den Lippen, angezogen
Geht ein Körperchen die Straße quer und längs
Das hodenpaar wie immer seelenruhig im Schritt
Im Himmel kräuselt sich der Alltagstraum
Durchzieht als Cumulus die Vormittage
Noch immer küssen meine Lippen deine Lippen
Noch immer unsre Zukunft unser Liebesalphabet
Noch immer diese Zeilen die den frühren folgen
Noch immer klebe ich an meinem Namen fest
Schon wieder geht wer schlafen mit Noch immer
Noch immer träumt er den Schon wieder Traum
Alltag im Sinnen und des nachts das Schließen
Der Augendeckel. Abgelegen dämmert es zu Tag
6.
Der junge Friede ist ein guter Fußballer, sagte ich. Die
Zweite Republik, ein wunderbarer Kinderspielplatz. Wir spielen
auf der Jesuitenwiese Fußball mit Tennisbällen. Die
zahlreichen Häuserruinen sind unser Revier, wir fürchten
keine Fliegerbomben, wir fürchten bloß den Praterschas
- ein auf dem Fahrrad berittener Aufseher, der aufpasste, dass
wir auf der Wiese nicht Fußball spielen, das ist verboten.
"Tschif, der Praterschas", schreit einer, wir nehmen
den Ball n die Hand (bereits ein Gummiball), spielen das verachtete
Handball oder gar Völkerball. Und wir fürchten den Kinderverzahrer,
eine mythische Gestalt in Wien. Er durchstreift nicht nur die
Donauauen, auch meine Träume.
Ein großartiges Panoptikum ist die Republik für mich.
Mörder, Fußballer, Schifahrer, Schieber, Unterweltler
wie der Notwehrkrista und der Schwinde, Opernsänger. Rotarmistenensemble,
Panzerkreuzer Potemkin, Fidelio und das Ländermatch gegen
Ungarn. Der Wiederaufbau in der Wochenschau. Auf den Gassen wird
uns eine Ruine nach der andern weggenommen.
Alles ist sehr patriotisch unterwegs. Von Kaprun, dem noch von
Zwangsarbeitern begonnenen Kraftwerk, nun das Symbol österreichischer
Eigenständigkeit und Wirtschaftskraft, bis zum Ausschluß
des Schifahrers Karl Schranz von den Olympischen Spielen. Ich
bin auch und so gerne ein Österreicher. Als in einem späteren
Wahlkampf ein Bundeskanzler gegen den Juden Kreisky mit dem Slogan
antritt: Ein echter Österreicher, beginne ich an die Gernheit
meines Österreichertums zu zweifeln. Wir sind schon wieder
einmal nicht ganz koscher.
Ah, diese junge Republik, kein schöner Land. Ein Naziverbrecher
nach dem andern wird von SS-Leuten - als Geschworene verkleidet
- freigesprochen, kein schöner Land, samtig geht es sich
auf seinen satten Almen, wunderbar verwunschen seine Wälder,
verträumt verschlängelt seine Flusslandschaften. Sie
dürfen bloß nicht aufstampfen in diesem Land, denn
dann suppt alsogleich Ihnen die blutbraune Soß ins Gesicht.
Doch im Leisetreten gibts viel Erfahrung, ebenso wie im Marschieren,
alles zu seiner ZEIT: Der Wohlstand bricht aus, denn es wurde
hart gearbeitet mit Hilfe des Marshallplanes, ich bekomme einen
Lederball.
Das Land der Söhne im Aufschwung, dieses Land, welches doch
das erste Opfer Hitlers war. Unsere gediegenen, bauernschlauen,
angeblich so trinkfesten Politiker ziehen die Welt über den
Tisch. Zwar ist hinter jedem Lipizzaner wenigstens ein KZ-Wächter,
aber nun wird mit Mozartkugeln geschossen. Die Welt ist entzückt
von uns, kein schöner Land, unabhängig und neutral.
Wir landen in den Vereinigten Staaten mit der Trappfamilie, das
hat Folgen, die der Schriftsteller Georg Kreisler so formulierte:
"Nur die Amis sind die Dummen
Weils jetzt als Touristen kummen."
Schon vorher ruft der todkranke Schauspieler Wegener dem aus
der Emigration zurückgekehrten Fritz Kortner als Begrüßung
entgegen:
"Also Fritzl, jetzt hat uns der Hitler den ganzen Antisemitismus
versaut."
Schweigen breitet sich aus, dafür singen Peter Kraus und
die Conny, Peter Alexander, aber auch Bill Haley und Paul Anka.
Zwar ruft ein gewisser Simon Wiesenthal unentwegt das Wort Gerechtigkeit
in den Vergnügungspark Österreich, doch auch diese,
empfiehlt es sich, könnte man etwas in die Länge ziehen.
Schließlich bemerkt ein FPÖ-Politiker gut gelaunt:
"Auch ja, den Wiesenthal, den raucht der Jörgl in der
Pfeifen." Dieses Land hat Humor, man lacht, doch der Politiker
muß zurücktreten, "wir san ned a so".
Ein in bezug auf Gedächtnis anders begabter Präsident
stürzt das Land in die Erinnerung. Ein kleiner Leutnant der
Deutschen Wehrmacht mutiert zur österreichischen Aufklärungsmaschine,
aber, wie es sich bei uns gehört, wider Willen.
Seitdem geht's zu in diesem Land: Kampf um ein Denkmal, Kampf
um ein Staatstheater. Der erwähnte Jörgl (Herr Dr. Haider)
will gerne die Dritte Republik errichten und versucht, die Zweite
zu Tode zu denunzieren. Er schürt Sozialneid und Fremdenhaß,
spielt mit den Ängsten und hetzt die Leute gegeneinander
auf. Die längst nicht mehr so gediegenen, nicht bauernschlauen
etablierten Politiker wissen nicht recht, was sie dagegen tun
sollen. Ein Teil der Bevölkerung sitzt in Bierzelten und
wiehert, ein anderer hat Fackeln in der Hand und schluchzt.
Briefbomben explodieren, Roma werden die Luft gesprengt, die Blutsuppe
kommt hoch, "wir haben ihn geschafft, den Wiederaufbau".
7.
Die Republik kommt in die Jahre und ich mit ihr. Kann sein, dass
ich keine Lust mehr habe, gegen all das Vergangene, das auch viel
Zukünftiges enthalten mag, zu kämpfen. Kann sein, dass
es für mich einen anderen Platz zum Altwerden und Sterben
gibt als Wien, obwohl gerade Wien sich zum Sterben an sich sehr
eignet.
Wenn ich dann gelegentlich zu Besuch kommen werde, denn ohne Wien
halte ich es leider nicht zu lange aus, was werden die Leute mir
dann sagen?
Etwa: "Ach Gott, wir sitzen hier in der Scheiße, aber
du und deinesgleichen aalen sich am Strand von Tel Aviv ..."
"Ich leben in Malmö", unterbreche ich.
"Ihr aalt euch am Strand und lasst euch die Sonne auf den
Bauch knallen, während wir in der Scheiße sitzen. Ihr
habe es gut."
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