Das ist die offizielle Homepage von Robert Schindel
     
   
   

   
   
ESSAY GOTT SCHÜTZ UNS VOR DEN GUTEN MENSCHEN.
Jüdisches Gedächtnis - Auskunftsbüro der Angst.
  1995. edition suhrkamp 1958.

 

 

Alltag im Sinnen

Der "Frieden" wird fünfzig

1.

Eine zweiunddreißigjährige Frau steht mit ihren zweiunddreißig Kilogramm Körpergewicht zusammen mit etlichen Leuten seit Tagen in einem Waggon, der mit anderen Waggons anscheinend ziellos durchs nördliche Deutschland fährt. Der Waggon ist nicht eben komfortabel, aber immerhin kommt die Frühlingssonne durch die kleinen Fenster und durch die Ritzen. Das Innere des Waggons ist kahl, einige Kübel sind vorhanden, ansonsten stehende, kauernde, liegende Leute. Von Zeit zu Zeit werden die Türen geöffnet, die Kübel ausgeleert, Verstorbene herausgenommen, Suppe und Brot - wenn vorhanden - hineingeschoben.
Die Frau steht heute in der Nähe der Tür, als diese wieder einmal geöffnet wird. Einige ältere Herren in anderer Uniform als bisher - graugrün - werfen Stroh in den Waggon hinein. Stroh und nochmals Stroh. Die Frau schaut stumm fragend einen der älteren Herrn an. Er bemerkt den Blick und sagt zu ihr:
"Ihr habt es gut."
"Wir haben es gut?"
"Sowieso. Heute ist Kriegsschluß. Ihr habt es gut."
"Wo sind wir?"
"Dänische Grenze."
"Ist heute Sonntag?"
"Achter Mai oder neunter. Ihr habt es gut. Aber was wird aus uns?"
Der Herr von der Feldpolizei schaut bekümmert.
"Es wird schon werden", sagt meine Mutter, die nie um einen Trost verlegen ist.
So fährt sie mit den andern weiter nach Schweden und wird behutsam aufgefüttert. Manche, die zu gierig zu essen beginnen, müssen noch sterben. Sie ist von Auschwitz, zuletzt von Ravensbrück angereist gekommen, über Berlin und Hamburg, gelegentlich von einem Bahnhof zu Fuß zum andern, von den verhärmten Einwohnern beglotzt, häufig auch Rümpfnasen wegen des Gestankes, Ausspucke, weil Häftlinge. Nun ist diese Reise zu Ende. Nun kann sie ihre Toten zählen und zuversichtlich in den Frieden starren, der zu Anfang eine schüchtern lächelnde Maiengestalt ist.
Das Totezählen lässt sie schnell bleiben, das wird später der in Wien überlebt habende Sohn besorgen. Die Hinrichtung ihres Freundes - meines Vaters - in Dachau deprimiert sie zwar schrecklich, doch nun gilt es, ein freies, demokratisches Österreich zu errichten. Die junge Frau ist nicht nur ein Untermensch gewesen, sie ist zusätzlich eine Kommunistin geblieben; daher trachtet sie, so schnell wie möglich ins zerbombte Wien heimzukehren, ihren Sohn etwelchen Pflegeeltern mit Dank wegzunehmen und aufzubauen: neue Häuser, neue Gesellschaft, neue Menschen. Im August trifft sie in Wien ein, findet mich, denn sie erkennt mich am Muttermal an meinem rechten Unterarm, und dann geht's los.
Den Frieden füttern, den Frieden warm halten, dem Frieden die Angst nehmen, den Frieden laufen lehren, sprechen, lachen. Die Toten in Riga, in Auschwitz-Birkenau, in den Wolken, im Erdreich, sinken immer mehr ab, verschwinden in der langen Nacht, ihre Namen verschimmeln.
Die ersten demokratischen Wahlen, die österreichischen Genossen, die Sowjetischen Genossen, die Kinder von Genossen - so klein, aber schon Genossen -, wo ich hinschaue Genossen. Der Friede ist ein Genosse.

2.

Ich bin ein Jahr älter als der Friede. Er als mein jüngerer Bruder war aber immer schon da, wie das so ist, wenn Brüder im Alter so nah beieinanderliegen.
Ich wachse in der Kommunistischen Partei auf, durchlaufe die Kinder- und Jugendorganisationen. Die KP ist durchtränkt von Frieden. Die Friedenstaube des Picasso, das Friedenslied des Brecht, der Weltfriedenskongreß. Das erste schwierige Wort, das ich aussprechen kann, ist das Wort Völkerverständigung.
Doch daweil ich mit dem Frieden spiele - der junge Friede ist ein sehr guter Fußballer -, kommen seltsame Geschichten an mein Ohr:
Nieder mit der faschistischen Titoclique, höre ich. Eben war Tito noch ein Genossen gewesen. Die Genossen, die eine Tante in Jugoslawien haben und sie auch besuchen, sind plötzlich amerikanische Spione. Meine Tanten sind alle vergast, ich bleibe ein treuer Jungkommunist. Bürgerkrieg in Griechenland. Hände weg von Korea. Der Osten ist rot, China ist jung.
Der Frieden führt Krieg? Gegen wen? Gegen den Krieg. Ein Frieden, der nicht Krieg gegen den Krieg führt, ist kein Frieden, sonder Pazifismus. Da die amerikanischen Imperialisten und die westdeutschen Revanchisten den Weltfrieden bedrohen, muß dieser in Gestalt der friedliebenden Sowjetunion gegen die Kriegstreiber auf der Wacht sein. Diese Friedensliebe verkörpert sich im Genossen Josef Wissarionowitsch Stalin. Dieser sagt: "Der Frieden kann gesichert werden, wenn die Völker die Sache des Friedens in ihre eigenen Hände nehmen." Der Onkel mit der Pfeife, unser Pepi-Onkel. Eigenartig, bevor ich weiß, was eine Verfassung ist, weiß ich, was ein Revanchismus und ein Imperialismus ist.
Ich weiß sogar, was ein Kosmopolit ist, Ah, nicht das, was Sie denken, kein weltoffener Bürger. Ein Kosmopolit ist ein wurzelloses Element, und als Kommunist ist er einfach nichtkoscher. An die Prozesse in der Tschechoslowakischen Republik und in der Ungarischen Volksrepublik kann ich mich zwar nicht erinnern, doch die zionistische Weltverschwörung dieser dort angeklagten Kosmopoliten geht mich ohnedies nichts an, sowenig wie die jugoslawische Tante, denn meine Genossin Mutter hat mich beruhigt, nachdem ich auf der Gasse Judenbob genannt wurde:
"Juden sind religiöse Menschen", erklärt sie mir, "wie Christen. Wir aber sind ohne Bekenntnis, daher auch keine Juden."
Beruhigt trage ich meine Judennase wieder auf die Gasse zurück, teile allem mit, dass ich kein Jude sei, und lache, wenn die lachen. Schließlich erkrankt der Pepi-Onkel. Ich schreibe ihm aufs höchste besorgt einen Brief:
"Lieber Genosse Stalin. Bitte werde wieder gesund im Interesse des Weltfriedens. Robert Schindel, Junggardist."
Als Junggardist spiele ich mit den Gassenkindern in den Ruinen Franzosen gegen Vietminh, wieder ein Krieg für den Frieden. Mein Bruder, der Friede, kommt schon in jungen Jahren ganz schön herum. Aber er ist schön, der Friede, und ich liebe auch das Kriegerische an ihm, und so bin ich bis heute kein ordentlicher Pazifist geworden.

3.

Der Stalinismus durchwächst eine Kinderseele. Wir Bolschewiki sind ein besonderer Menschenschlag. Der Stalinismus benutzt den Nationalsozialismus, um eine jüdische Kinderseele zu durchwachsen. Ein Jude ist kein Jude, der Krieg ist der Frieden, der Frieden ist ein Friedenskampf, manche Genossen werden Feinde, manche Feinde werden zeitweilig Genossen wie der Fast-Genosse Hitler, aber das war vor meiner Zeit. Inzwischen ist Tito wieder ein Genosse, aber wie der Genosse Generalsekretär geheißen? Von der Sowjetunion sagt mir wer: Dort ist die Zukunft gewiß, nur die Vergangenheit ändert sich jeden Tag. Was geht mich die Vergangenheit an, ich will Zukunft, schöne Zukunft. Dort träume ich mich als Dichter, wie Majakowski. Damals weiß ich gar nicht, wie er geendet hat, aber hätte ich es gewusst, ich hätte mir gedacht, der arme Mensch hat sich plötzlich verirrt. Wie macht man Verse?
Zwei deutsch Dichter ziehn mich weg von Majakowski. Schiller und Kästner. Ich falle tief, ich bemerke erst gar nicht, dass ich gegen den Stalinismus pubertiere. Von Schiller lerne ich das Pathoswort Freiheit neu, von Kästner vielleicht das Augenzwinkern beim Dichte. Beides versuche ich, und schon bin ich ein halbwüchsiger, dem nichts mehr heilig ist, der an allem was auszusetzen hat. Sogar an Chruschtschow. Dort ist das Tauwetter schon wieder vorbei, da falle ich in die Hände von Ernst Fischer und Konsorten. Drei Jahre später verlasse ich die Partei. Das Jahr achtundsechzig hat noch nicht begonnen.
Spätestens jetzt wirds Zeit zu rechtfertigen, warum ich so intensiv von mir selbst spreche, wo es doch des "Friedens" Geburtstag zu feiern gilt. Wie schon gesagt, er ist mein jüngerer Bruder. Vielleicht erfahren Sie etwas über ihn, wenn ich von mir rede. Sie kennen diese Familienkrankheit. Ich bin kein Wissenschaftler, ich brauch nicht objektiv sein. Statistiken, Fakten können Sie nachlesen.
Mir geht es an diesem, seinem Geburtstag um das Problem der Ideologie-Infektion. Keine Kinderkrankheit, die man wie von selbst übersteht. Die Ideologie-Infektion hatte Blutgesauf zur Folge, und in diesem Jahrhundert standen die großen und kleinen Führer zuhauf an der roten Tränke. Der erste Napoleon, selbst ein großer Blutsäufer, bezeichnete noch als Konsul der Republik einige seiner Gegner, tatenlose Räsonierer, als Ideologen. Diesen Kinderschuhen ist die Ideologie rasch entwachsen: als gewaltsame Organisation von Werten zu partikulären Zwecken. Es werde des Gute aus dem Bösen, heißt es bei Nietzsche, der aber sogleich hinzufügt: Es werden die Zwecke aus dem Zufalle.
Während man der Französischen Revolution noch zugute halten darf, daß aus ihr die Menschrechte, der Code Napoléon, das allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch entsprangen, haben die Zuspätkommenden der Weltgeschichte sich bei der profanen bürgerlichen Gesellschaft nicht aufhalten wollen. Die radikalste Gegenaufklärung - der Nationalsozialismus - hat nur noch Elend und Tod verbreitet, und es bleibt wahr: "Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch." Aber der Stalinismus, der immer wieder so gern mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt wird, war selbst eine pervertierte Form der Aufklärung. Menschheitsbeglückung um jeden Preis, als die Leute mit dem Knüppel ins Paradies jagen, das machte ihn ideologisch noch ansteckungsintensiver als den Nazismus, vor allem für die "guten" Menschen, die es mit sich nicht aushalten und nicht mit dem menschlichen Elend - der anderen. Und das Fortbestehen der Fragen, auf die er die falsche Antwort war, das macht vielleicht heute sein Verwesen so quälend.
Aber gerade auch für die, die man schon jahrhundertelang verfolgt, denen man schließlich das Menschsein abgesprochen hatte, die man zu Untermenschen degradiert, die man deportiert und vernichtet hatte, wo man ihrer habhaft werden konnte, war es verführerisch, nicht nur für sich selbst oder auch bloß ihr Volk dazusein, sonder die Welt zu verändern, den ganzen Planeten zur Heimat, zu einem bewohnbaren Planeten machen zu wollen. Freilich, es sollten die Einzelinteressen zurückstehen, einstweilen. Keine Befreiung der Juden ohne Befreiung aller Werktätigen, keine Befreiung der Frauen vor dem Sieg der Arbeiterklasse, "Keine Emanzipation ohne die der Gesellschaft". Was Wunder, dass sich schon früh im säkularisierten Judentum der ihm innewohnende unterirdisch schwelende Messianismus in Sozialismus und Kommunismus verwandelte. Dafür waren sie in Mehrheit wieder die ersten, die über die Klinge sprangen. Aber das sollte das Nachkriegskind erst später erfahren.
Das Durchwachsen einer Kinderseele mit Ideologie, ein Kindheitsmuster des zwanzigsten Jahrhunderts.
Wenn ich an diesem Geburtstag von mir spreche, dann versuche ich vorzuführen, wogegen zu pubertieren sich lohnt.
Es ist wahr: die langsame Befreiung von Ideologie geschah in meinem Fall gefahrlos. Der kleine Stalinist im Westen kann kein wirkliches Unheil anrichten, ebenso wenig wie der spätere Maoist, denn Josef Stalin hat mir auf den Brief vom 1. März 1953 doch geantwortet, und ich muß in den siebziger Jahren als äußerlich erwachsener Mensch nochmals einen poststalinistischen Nachschlag durchleben, damit ich mir endlich die Moskauer Schauprozesse der dreißiger Jahre als Täter und als Opfer vorstellen kann. Ich hatte Glück.
Es kommt mir drauf an, was aus den Kindheitsmustern wird oder wie einer aus den Verstrickungen dieses Jahrhunderts herauskommt.

4.

Statt dessen aber sind die Gleichsetzer und Aufrechner wieder unterwegs. In der Alltagsdiskussion sind sie leicht zu erkennen: Auf Auschwitz folgt Dresden und Hiroshima, auf die Vernichtung der Juden die der Indianer, den Vertreibungen der Juden wird die der Deutschen gleichgesetzt.
Ich will mich zu diesem Thema nicht weiter verbreiten gemäß dem Grundsatz, es möge sich jeder zu seiner eignen Schande äußern. Vaclav Havel hat es getan.
Ich sagte schon, dass ich den Stalinismus als Beispiel meiner eigenen Ideologie-Infektion vorbringe, nicht aber, damit andere daraus eine Relativierung der Naziverbrechen ableiten können.

5.

Der "Frieden" ist fünfzig. Ich habe das Wort Friede in Anführungszeichen gesetzt, denn fünfzig wurde er in Mittel- und Westeuropa. Ich weiß nicht, wie viele große oder kleine Kriege seither in der Welt geführt wurden, wobei auch die kleinen Kriege für die dort Liegengebliebenen groß genug gewesen sind.
In Südosteuropa verknüpfen sich Nazismus, Faschismus und Stalinismus zu einem gegenwärtigen Vergangenheitstableau, das die Gegenwart und Zukunft nun blutig einfärbt. Mir ist sehr schweizerisch zumute, wenn ich nach Südosten blicke. Unser Boot ist selbstverständlich voll.
Ich muß und will gerne zugeben, dass Deutschland, verglichen mit anderen europäischen Weststaaten, viele aufgenommen hat. Zwar haben die Franzosen ihre Araber und Vietnamesen, die Engländer die Pakistani und Inder, die nicht berücksichtigt wurden, wenn sich Deutschland wegen seiner Großzügigkeit rühmt, aber dennoch soll dies vorerst anerkannt sein.
Es ist zuwenig.
Es steht den Österreichern nicht gut an, dichtzumachen, nachdem sie damals fast zweihunderttausend österreichische Juden, österreichische Zigeuner vertrieben bzw. zu vernichten mitgeholfen hatten. Es steht den Deutschen nicht gut an, einerseits jeden, der vor hundert Jahren einen deutschen Schäferhund in der Verwandtschaft hatte, als Aussiedler anzuerkennen, aber rigid gegen Menschen vorzugehen, die in ihrer Heimat mit dem Tode bedroht sind.
Na ja, auch der Krieg hat seinen Frieden, er hat seine friedlichen Stellen. In einem Winkel der Welt wird der Frieden fünfzig. Wenn ich nachsinne. Im alltäglichen Sinnen ist aber auch nach fünfzig Jahren der Krieg allgegenwärtig, für mich der damalige, der sich bloß meines Unbewussten bemächtigte, und die folgenden, die ich als Zuschauer miterleben muß:

ALLTAG IM SINNEN

Alltag im Sinnen. Täglich das Öffnen
Der Augen. Abgestanden das Morgenlicht
Hervorgeschupft die Hoden vorübergebückt
Der senkrechte Körper, neu aber
Der herausstürzende Bauch, so duscht sichs
Daweil, was vor dem Auge liegt, hereinkommt

Schon wieder hat in Bosnien mancher seinen Darm im Arm
Schon wieder fließt der Regen statt ins Erdreich
Ganzen Familien in den Schlund
Schon wieder kommt die Krankheit aus dem Mittelalter
Tafelt mit jungem Aids altneue Menschen, Trommelwirbel
Und Videoclip in einem schon wieder
Ruft die Nation die Lebenden ins Grab

Alltag im Sinnen, wunderlich der Blick
Ein Liedlein von den Lippen, angezogen
Geht ein Körperchen die Straße quer und längs
Das hodenpaar wie immer seelenruhig im Schritt
Im Himmel kräuselt sich der Alltagstraum
Durchzieht als Cumulus die Vormittage

Noch immer küssen meine Lippen deine Lippen
Noch immer unsre Zukunft unser Liebesalphabet
Noch immer diese Zeilen die den frühren folgen
Noch immer klebe ich an meinem Namen fest

Schon wieder geht wer schlafen mit Noch immer
Noch immer träumt er den Schon wieder Traum
Alltag im Sinnen und des nachts das Schließen
Der Augendeckel. Abgelegen dämmert es zu Tag

6.

Der junge Friede ist ein guter Fußballer, sagte ich. Die Zweite Republik, ein wunderbarer Kinderspielplatz. Wir spielen auf der Jesuitenwiese Fußball mit Tennisbällen. Die zahlreichen Häuserruinen sind unser Revier, wir fürchten keine Fliegerbomben, wir fürchten bloß den Praterschas - ein auf dem Fahrrad berittener Aufseher, der aufpasste, dass wir auf der Wiese nicht Fußball spielen, das ist verboten. "Tschif, der Praterschas", schreit einer, wir nehmen den Ball n die Hand (bereits ein Gummiball), spielen das verachtete Handball oder gar Völkerball. Und wir fürchten den Kinderverzahrer, eine mythische Gestalt in Wien. Er durchstreift nicht nur die Donauauen, auch meine Träume.
Ein großartiges Panoptikum ist die Republik für mich. Mörder, Fußballer, Schifahrer, Schieber, Unterweltler wie der Notwehrkrista und der Schwinde, Opernsänger. Rotarmistenensemble, Panzerkreuzer Potemkin, Fidelio und das Ländermatch gegen Ungarn. Der Wiederaufbau in der Wochenschau. Auf den Gassen wird uns eine Ruine nach der andern weggenommen.
Alles ist sehr patriotisch unterwegs. Von Kaprun, dem noch von Zwangsarbeitern begonnenen Kraftwerk, nun das Symbol österreichischer Eigenständigkeit und Wirtschaftskraft, bis zum Ausschluß des Schifahrers Karl Schranz von den Olympischen Spielen. Ich bin auch und so gerne ein Österreicher. Als in einem späteren Wahlkampf ein Bundeskanzler gegen den Juden Kreisky mit dem Slogan antritt: Ein echter Österreicher, beginne ich an die Gernheit meines Österreichertums zu zweifeln. Wir sind schon wieder einmal nicht ganz koscher.
Ah, diese junge Republik, kein schöner Land. Ein Naziverbrecher nach dem andern wird von SS-Leuten - als Geschworene verkleidet - freigesprochen, kein schöner Land, samtig geht es sich auf seinen satten Almen, wunderbar verwunschen seine Wälder, verträumt verschlängelt seine Flusslandschaften. Sie dürfen bloß nicht aufstampfen in diesem Land, denn dann suppt alsogleich Ihnen die blutbraune Soß ins Gesicht. Doch im Leisetreten gibts viel Erfahrung, ebenso wie im Marschieren, alles zu seiner ZEIT: Der Wohlstand bricht aus, denn es wurde hart gearbeitet mit Hilfe des Marshallplanes, ich bekomme einen Lederball.
Das Land der Söhne im Aufschwung, dieses Land, welches doch das erste Opfer Hitlers war. Unsere gediegenen, bauernschlauen, angeblich so trinkfesten Politiker ziehen die Welt über den Tisch. Zwar ist hinter jedem Lipizzaner wenigstens ein KZ-Wächter, aber nun wird mit Mozartkugeln geschossen. Die Welt ist entzückt von uns, kein schöner Land, unabhängig und neutral. Wir landen in den Vereinigten Staaten mit der Trappfamilie, das hat Folgen, die der Schriftsteller Georg Kreisler so formulierte:

"Nur die Amis sind die Dummen
Weils jetzt als Touristen kummen."

Schon vorher ruft der todkranke Schauspieler Wegener dem aus der Emigration zurückgekehrten Fritz Kortner als Begrüßung entgegen:
"Also Fritzl, jetzt hat uns der Hitler den ganzen Antisemitismus versaut."
Schweigen breitet sich aus, dafür singen Peter Kraus und die Conny, Peter Alexander, aber auch Bill Haley und Paul Anka.
Zwar ruft ein gewisser Simon Wiesenthal unentwegt das Wort Gerechtigkeit in den Vergnügungspark Österreich, doch auch diese, empfiehlt es sich, könnte man etwas in die Länge ziehen. Schließlich bemerkt ein FPÖ-Politiker gut gelaunt: "Auch ja, den Wiesenthal, den raucht der Jörgl in der Pfeifen." Dieses Land hat Humor, man lacht, doch der Politiker muß zurücktreten, "wir san ned a so".
Ein in bezug auf Gedächtnis anders begabter Präsident stürzt das Land in die Erinnerung. Ein kleiner Leutnant der Deutschen Wehrmacht mutiert zur österreichischen Aufklärungsmaschine, aber, wie es sich bei uns gehört, wider Willen.
Seitdem geht's zu in diesem Land: Kampf um ein Denkmal, Kampf um ein Staatstheater. Der erwähnte Jörgl (Herr Dr. Haider) will gerne die Dritte Republik errichten und versucht, die Zweite zu Tode zu denunzieren. Er schürt Sozialneid und Fremdenhaß, spielt mit den Ängsten und hetzt die Leute gegeneinander auf. Die längst nicht mehr so gediegenen, nicht bauernschlauen etablierten Politiker wissen nicht recht, was sie dagegen tun sollen. Ein Teil der Bevölkerung sitzt in Bierzelten und wiehert, ein anderer hat Fackeln in der Hand und schluchzt.
Briefbomben explodieren, Roma werden die Luft gesprengt, die Blutsuppe kommt hoch, "wir haben ihn geschafft, den Wiederaufbau".

7.

Die Republik kommt in die Jahre und ich mit ihr. Kann sein, dass ich keine Lust mehr habe, gegen all das Vergangene, das auch viel Zukünftiges enthalten mag, zu kämpfen. Kann sein, dass es für mich einen anderen Platz zum Altwerden und Sterben gibt als Wien, obwohl gerade Wien sich zum Sterben an sich sehr eignet.
Wenn ich dann gelegentlich zu Besuch kommen werde, denn ohne Wien halte ich es leider nicht zu lange aus, was werden die Leute mir dann sagen?
Etwa: "Ach Gott, wir sitzen hier in der Scheiße, aber du und deinesgleichen aalen sich am Strand von Tel Aviv ..."
"Ich leben in Malmö", unterbreche ich.
"Ihr aalt euch am Strand und lasst euch die Sonne auf den Bauch knallen, während wir in der Scheiße sitzen. Ihr habe es gut."

 
 
 
TEXTE
Lyrik
Essay
Prosa
   
               
               
     
   
       
         
     
  Kontakt: Robert@Schindel.at
  Bookmark: Diese Seite als Bookmark/Favorit speichern
  Webmaster: daniela@lichtnetz.at
  Alle Rechte: ©2002 Robert Schindel, Wien
   
      Dieser Site wurde von the.webile.net gemacht.