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Epilog
Verzweifelte
26. Februar 1986
Ein Autobus, darin vierzig Juden unter jenen
Graublende der Geschichte.
Letzter Versuch auszusteigen: Ich finde die Leute nicht am nordwestlichen
Praterstern. Ich will schon wieder heimfahren, im letztem Moment
kann ich Paul mit der Pullmannkappe nicht übersehen. In Gottesnämlichkeit,
wir fahren halt ab nach Theresienstadt in ABC-Version zum slawonischen
Osijek.
Die Blicke sind nach dorthin gerichtet, wir fahren in die Zukunft,
die wegen ihrer gewissen Vergangenheit so habtacht, so verkrümmt
eine Gegenwart bildet. Es ist schön, so herumzufahren hinein
ins Steirische.
Neben mir sitzt Lea, eine vierzigjährige Frau mit inneren
Radikaloperationen. Sie erfährt, dass ich Lektor bin.
"Die Literatur mit der Fäkalmode, das ist so arg."
Sie will Puppentheater machen als Oper oder Oper als Puppentheater,
egal. Ihr Mann kommt aus der Ukraine.
"Ich red nie was, außer in Sprüchwörtern".
Aber dann streiten sie laut und mit voll nach inne gerichteter
Sehnsucht. Unmöglich, dass die Sonne sich bei denen unterzugehen
traut.
Bei Gelegenheit Riesenszene, weil Lea zu viel Geld für Passbilder
bezahlt hatte. Jetzt steht sie da, denn ABC zahlt bloß einen
Fünfziger. Jetzt glaube sie, alle glauben, wie wäre
geldgierig. Bis ins Jugoslawische hinein rinnen die Tränen.
Esther Lichtblau fährt mit uns. Sie will uns Statisten eine
Geschichte in ihrem Schmerz unterbringen, sie, die Dokumentarfilmerin
aus Wien und Czernowitz, sie will ihre Melancholie mittels laufender
Bilder verstärken und beenden zugleich. Ihre Kamerafrau Nana,
aber das später, ein Floureszieren im Floureszieren.
Sany, die Tochter des Literaturverstärkers Georges Weiß,
eine Ganzjunge mit kippiger Sozialisation, betulich heute, glatt,
sehr ehrgeizig, liebenswürdigst.
Hinten das Ehepaar Thurn und Taxis, zwei Schwestern von Einigensiebzig
bis Schwachachtzig, still-bescheiden, asketisch. Zwei Christinnen
unter den gackernden Kindern Israels, stumm.
Irgendwo hinter Varadin rutscht der Bus aus. Spät kommen
wir an.
Wie soll ich´s notieren, ich kann nicht
notieren. Als einundvierzigster über die vierzig notieren,
das ist ein Schreiben aus der Hüfte, aus der Gurgel, ach
was.
Hannah und Mordechai, das israelische Ehepaar, dieses Würgritual,
sie ist sehr schön, er singt sehr schön; ich glaube,
alle Hysteriker können ohrenverliebt singen.
Der einzige, der weiß, was ein Kazett ist, denn er war in
einigen, und er prahlt verzweifelt mit dem einzigen, was seine
jetzige Gebrochenheit harmonisiert.
Aber Herr Recht, bloß in einem Lager zwischen
Dnjestr und Bug, will keinen Juden statieren, sondern, na endlich,
einen SS-Mann.
Unauffällige gibt es, sie werden noch auffallen. Auffällige,
sie werden ihre Traumschreie, in denen die Gegenwart hinter de
Vergangenheitsmaske eingezwängt ist, als organischen Schweiß
in der Morgenfrüh vom Leib duschen, aber auffällig bleiben,
weil ihr Gestorbensein so vital ist.
"Ich hab´s ja gewusst, die Juden sind keine Familie,
zu blöd, wie weh das tut", sagt Esther Lichtblau, nicht
nur sie.
Übrigens ist diese vierzigköpfige Judenheit minus Thurn
und Taxis im Autobusbehälter durch den südöstlichen
Winter heruntergerollt und her nach Osijek an der Drau, um der
ABC-Fernsehgesellschaft für die Fernsehserie "Krieg
und Erinnerung" die Nahkomparserie zu liefern. Hier haben
sie Theresienstadt adaptiert, hier können wir froh sein,
weil wir den Vertilgten nachspielen können, a Glück,
das wir haben, wir sind bloß Komparsen in einem Film, in
einem Spiel, Millionen leb´n, a Glück. Wir spielen
und wahrlich, das müssen Verzweifelte nur.
Heute ist Kostüm. Auch ich werde eingekleidet. Das Kostüm,
betreut von netten Jugoslawen, zieht mich aus, zieht mich um.
"Wien ist die schönste Stadt der Welt"; sagt ein
Zagreber Kostümmann zu mir, derweil er mir den Judenstern
mit der Sicherheitsnadel provisorisch am Mantel befestigt. "Ich
hab dort studiert. Fühlen Sie sich wohl, oh, entschuldigen
Sie, ich meine, passt das Kostüm, verzeihen Sie. Ich komme
aus Zagreb - Agram", sagt er.
"Zagreb, ja, aha", antworte ich. Es ist wahr, Osijek
hat etwas von Triest, trotz Schnee und Drau.
Da ich die alten Kleider anhabe, den Stern, den Hut und jetzt
nicht mehr aussehe wie tausend Juden, sondern wie zehntausend
Judenlämmer, hab ich kein unschönes Gefühl von
Spiel. Allerdings bin ich eingeschlossen in diesen Kleidern, und
ich denk mir, es ist, als stünde ich am Nollendorfplatz in
Berlin neben den Huren: Vor fünfundvierzig, fünfzig
Jahren tät ich anders dastehn in Berlin mit dem Stern, mit
dem Hut, und fünfzig Jahre, das ist nicht einmal ein Rülpser
im Zeitganzen unserer Erinnerung. Aber jetzt geh ich frech an
den Huren vorbei, an den Schupos, und ins Café Einstein
geh ich, und wenn Paul vernarrt ist in ein Mädchen von der
Schwäbischen Alp, wundert sich die deutsche Population bloß
im geheimen.
Da ich perfekt bin in der Judenlämmerkluft, darf ich mich
wieder rückverwandeln in Den von heute - eine blitzartige
Befreiung durch die Amerikaner, von der Derjenige, den ich statiere,
in den langen Frost- und Hungerödemwirksamkeiten wohl ständig
geträumt hat; ich bin perfekt, weil nachgeboren, also spielend.
Müssen wir Verzweifelte sein? Wo doch mein Humor mit meiner
Eitelkeit um ein passendes Lebensgefühl kämpft, jenseits
von Depressenburg in der Melancholei?
"Nur wenn der Mensch spielt, ist er ganz Mensch", sagte
einer der innerlich entzündeten Klassiker aus Schwaben.
Arg wird mir beim Essen mit dem einzigen im Kazett und drei anderen.
Was sind sie so garstig zum Ober, so beleidigt, so empfindlich,
so hochfahrend, so unhöflich, vom Kleinlichen will ich nicht
reden?
"Ein Kellner aus Slawonien wird nie ein Glück haben
mit einem so auserwählten Volk", sagt Paul im Beiseiteton.
Am Morgen müssen wir gleich im Kazettgewand frühstücken,
jedem das Seine.
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