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Kleine Geschichte des Verschwindens
Sie ist undeutlich geworden. Kann sein, dass ich sie noch sehe.
Der Amateurpoet und Profijournalist Leo Gager, ein vom Kopf her
langsam verstummender Mitvierziger, kann sich, wie ich jetzt höre,
dem Bedürfnis, eine Geschichte des Verschwindens zu schreiben,
nicht entziehen. Mehrmals versuchte ich, der ich die Poesie seit
Jahren professionell betreibe, diesem traurigen, stillen Menschen
solch ein Bedürfnis auszureden.
Eine Geschichte des Verschwindens kann man nicht schreiben. Denn
soll sie authentisch sein, muß sie gleichfalls verschwinden.
Mir ist egal, sagt Leo, und er bedeckt mit der Hand seine Augen.
Ich habe zwanzig Jahre lang Tatsachen in die Öffentlichkeit
geschaufelt. Da ist alles voll.
Aber auch Rosa ist nicht verschwunden, sagte ich. Und deine Geschichte
mit mir ist eine gewöhnliche Erfahrung.
Ein, sagte er. Dazwischen passieren Verschwindungen und häufen
sich. Meine Geschichte des Verschwindens ist zugleich die Geschichte
wachsender Würgungen.
Du solltest, sagte ich, da du die Poesie lernen willst, dich an
Geschichten heranmachen, die jeder schreiben kann, damit du am
Allgemeinen das Banale abzuarbeiten lernst und dein Einzigartiges
zum Scheinen bringen kannst. Wir müssen miteinander auskommen.
Du hast mich als Poesietrainer engagiert, um das Journalistische
wegzukriegen. Jetzt führ dich nicht so auf.
Meine Geschichte, sagt Gager mit der Hand vor seinen Augen, muß
das Subjekt der Geschichte zum Verschwinden bringen. Kann sein...
Ich springe auf: Schluß mit dem Zeug, Leo! Bis zum fünfzehnten
August schreibst du mir die Geschichte von dem Mann, der seine
Frau töten will und auf dem Weg zu seiner Schwiegermutter...
Du weißt schon.
Muß ich diese langweilige Geschichte wirklich schreiben,
Gottfried?
Und ob. In der Poesie kommt es darauf an, verwunschene Dinge zu
packen, anstatt sich die Augen zu bedecken und rumzujammern.
Was ist, flüsterte Gager, wenn aber Rosa getötet wurde?
Der Journalismus führt doch zu nichts, rede ich auf ihn ein.
Immer muß ich was in die Öffentlichkeit schaufeln.
Leo steht auf und schaut auf mich runter. Also gut.
Fein, Leo, fein. Das mit dem Verschwinden, vielleicht kommen wir
später darauf zurück. Jetzt bleib mir aber beim Subjekt.
Subjekt, das ist Substanz, nicht wahr.
Nach zwanzig Jahren will ich wirklich weg von den Instanzen, Gottfried.
Gager geht mit seinen typischen, abgelebten Schritten vom Ort
unseres Zusammentreffens. Ich greif zur Zeitung: Ach ja. Es rennen
soviel Poeten herum. Und ich versuch, aus dem auch noch einen
zu machen. Ach ja. Poesie, wo bleibst du denn. In den Terminkalender
schreib ich zum ersten September: Das Verschwinden der Rosa Palota.
Ein Würgritual.
1. Gager und die öffentliche Erfahrung
Dieser Gottfried Aper gibt mir das Thema. Ich habe keine Ahnung,
wie ich so eine gewöhnliche Geschichte zustande bringen soll.
Birnbaum will seine Frau umbringen.
Vermutlich hat er in den Jahren einen Haß aufgestaut. Andrerseits
stirbt ihm seine Frau weg, bevor er sie hinüberbringt, so
dass er dasteht mit seine Wut. Es bleibt ihm nichts übrig,
als sie eingraben zu lassen. Der ganze Verein um die Ehe herum
wird an ihm vorbeidefilieren, Krethi und Plethi werden ihn anpflauseln;
die Schwiegermutter, die schon jetzt nach Pisse riecht, wird ihm
vollends den Haushalt führen, denn sie wird hinfällig
und muß dafür sorgen, ihre kleine Zukunft in die nicht
und nicht weichende Gegenwart einzubringen. Das Ganze kostet einen
Haufen, und die Wut steht da.
Aber wo ist Rosa?
a) Da ist Leo
Leo Gager hat es so weit gebracht, dass man in der Branche Hochachtung
hatte vor ihm. Journalisten sind bekanntlich Leute, bei denen
Zynismus und Alkohol ein natürliches Verhältnis miteinander
haben; zwei Hände walten da und greifen so ineinander, dass
sich wie von selbst Meinungen zu Tatsachen denaturieren. Denen
ist außer der Phrase kaum etwas heilig, und sogar diese
ist eine von ihnen häufig angeschissene Göttin, aber
eine Göttin immerhin. Aber vor Gager hatten sie Hochachtung.
Leo war ein kleiner, mittelrunder Mensch. Er hatte eine unabsichtliche
Karriere hinter sich. Er wollte Reisender werden. Schon als Jugendlicher
wollte er sich andauernd in die Büsche schlagen, was fotografieren,
was holzen, was missionieren was pflanzen, fremdeln. Doch sein
Gedächtnis war zu gut. Menschen, die sich viel merken, sind
selten und kommen erst recht nicht ins Paradies. Denn zuerst kommt
ihnen alles Fremde bekannt vor, danach ist wegen ihrer schnellen
Merkfähigkeit das Lernen kein Prozeß, sondern bloß
ein Schluck, schließlich ist nur das Unmerkliche wirklich
und kann interessieren.
Gager hatte das Gefühl, einzig zwischen den Wörtern
und in der Liebe seine mächtige Fremdsucht befriedigen zu
können.
Jedenfalls brachte ihn sein Gedächtnis in die Meinungsbranche,
und einmal dort, hielten ihn die Macher an Händen und Füßen
in ihren Redaktionen fest.
Zuerst saß er in Bibliotheken und Archiven von neun bis
eins und blätterte alte Zeitungen durch sowie Dokumentationen
und Dossiers. Nachmittags setzten sie ihn in einen großen
Ohrensessel, stellten Getränke und Brötchen auf seinen
Schreibtisch und kamen ihn fragen. Er leistete Widerstand bloß
in der Form, dass er sich weigerte, telefonisch Auskunft zu geben,
denn wenn sie sich schon Archiv und Computer sparen, dann haben
sie gefälligst daherzukommen und "wie geht's" zu
fragen, bevor sie was wissen wollen.
Mit der Zeit wurde ihm das Herumsitzen im Ohrensessel zu fad.
Angewidert las er die Artikel seiner Kollegen, denn es ging ihm
nicht ein, warum jede von ihm erinnerte Tatsache in den Artikeln
so zerfasert und mit anderen Tatsachen so ermischt wurde. Was
die Kollegen noch an sogenannter Fantasie hinzutaten, verbitterte
ihn vollends, so dass er sich entschloß, selber Artikel
anzufertigen.
Dazu musste er mehrmals die Zeitung wechseln. Schließlich
fand er in einer seine Spielwiese, und dort betrieb er das Ausbaldowern
von Tatsachen und das Zusammenhängen von Interessen wie ein
Botaniker.
Immer schon ist ihm die Politik zum Hals herausgehangen. Er warf
sich auf Kriminalfälle, de ohnedies genug Politisches enthielten.
Er wurde einer der bestinformierten Menschen in diesem Land, und
da er sich zumeist persönlicher Stellungnahme enthielt, ward
er - um es journalistisch zu sagen - zum Gewissen. Doch eigentlich
wusste Gager, wie er wusste, gar nichts, denn es interessierte
ihn kaum.
Wenn die Tatsachen für sich selbst sprachen, ward alles sehr
grauslich, aber Leo Gager war nie auf die Idee gekommen, was anderes
anzunehmen, als dass die Wirklichkeit selbst grauslich ist.
Ich schaufelte Tatsachen in die Öffentlichkeit. Ich weiß
daher, dass der Mensch eine Sau ist, sagte Gager zu Gottfries
Aper am Beginn ihrer Bekanntschaft.
Und was wollen Sie? Fragte der Poet.
Verschwinden. Zwischen den Wörtern. Wie Sie.
Wie ich? Ach so. Aha, wie ich.
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