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PROSA DIE NACHT DER HARLEKINE. (Auswahl)
  Erzählungen. 1994. Suhrkamp.
 


Kleine Geschichte des Verschwindens

Sie ist undeutlich geworden. Kann sein, dass ich sie noch sehe.
Der Amateurpoet und Profijournalist Leo Gager, ein vom Kopf her langsam verstummender Mitvierziger, kann sich, wie ich jetzt höre, dem Bedürfnis, eine Geschichte des Verschwindens zu schreiben, nicht entziehen. Mehrmals versuchte ich, der ich die Poesie seit Jahren professionell betreibe, diesem traurigen, stillen Menschen solch ein Bedürfnis auszureden.
Eine Geschichte des Verschwindens kann man nicht schreiben. Denn soll sie authentisch sein, muß sie gleichfalls verschwinden.
Mir ist egal, sagt Leo, und er bedeckt mit der Hand seine Augen. Ich habe zwanzig Jahre lang Tatsachen in die Öffentlichkeit geschaufelt. Da ist alles voll.
Aber auch Rosa ist nicht verschwunden, sagte ich. Und deine Geschichte mit mir ist eine gewöhnliche Erfahrung.
Ein, sagte er. Dazwischen passieren Verschwindungen und häufen sich. Meine Geschichte des Verschwindens ist zugleich die Geschichte wachsender Würgungen.
Du solltest, sagte ich, da du die Poesie lernen willst, dich an Geschichten heranmachen, die jeder schreiben kann, damit du am Allgemeinen das Banale abzuarbeiten lernst und dein Einzigartiges zum Scheinen bringen kannst. Wir müssen miteinander auskommen. Du hast mich als Poesietrainer engagiert, um das Journalistische wegzukriegen. Jetzt führ dich nicht so auf.
Meine Geschichte, sagt Gager mit der Hand vor seinen Augen, muß das Subjekt der Geschichte zum Verschwinden bringen. Kann sein...
Ich springe auf: Schluß mit dem Zeug, Leo! Bis zum fünfzehnten August schreibst du mir die Geschichte von dem Mann, der seine Frau töten will und auf dem Weg zu seiner Schwiegermutter... Du weißt schon.
Muß ich diese langweilige Geschichte wirklich schreiben, Gottfried?
Und ob. In der Poesie kommt es darauf an, verwunschene Dinge zu packen, anstatt sich die Augen zu bedecken und rumzujammern.
Was ist, flüsterte Gager, wenn aber Rosa getötet wurde?
Der Journalismus führt doch zu nichts, rede ich auf ihn ein.
Immer muß ich was in die Öffentlichkeit schaufeln. Leo steht auf und schaut auf mich runter. Also gut.
Fein, Leo, fein. Das mit dem Verschwinden, vielleicht kommen wir später darauf zurück. Jetzt bleib mir aber beim Subjekt. Subjekt, das ist Substanz, nicht wahr.
Nach zwanzig Jahren will ich wirklich weg von den Instanzen, Gottfried.
Gager geht mit seinen typischen, abgelebten Schritten vom Ort unseres Zusammentreffens. Ich greif zur Zeitung: Ach ja. Es rennen soviel Poeten herum. Und ich versuch, aus dem auch noch einen zu machen. Ach ja. Poesie, wo bleibst du denn. In den Terminkalender schreib ich zum ersten September: Das Verschwinden der Rosa Palota. Ein Würgritual.

1. Gager und die öffentliche Erfahrung

Dieser Gottfried Aper gibt mir das Thema. Ich habe keine Ahnung, wie ich so eine gewöhnliche Geschichte zustande bringen soll. Birnbaum will seine Frau umbringen.
Vermutlich hat er in den Jahren einen Haß aufgestaut. Andrerseits stirbt ihm seine Frau weg, bevor er sie hinüberbringt, so dass er dasteht mit seine Wut. Es bleibt ihm nichts übrig, als sie eingraben zu lassen. Der ganze Verein um die Ehe herum wird an ihm vorbeidefilieren, Krethi und Plethi werden ihn anpflauseln; die Schwiegermutter, die schon jetzt nach Pisse riecht, wird ihm vollends den Haushalt führen, denn sie wird hinfällig und muß dafür sorgen, ihre kleine Zukunft in die nicht und nicht weichende Gegenwart einzubringen. Das Ganze kostet einen Haufen, und die Wut steht da.
Aber wo ist Rosa?

a) Da ist Leo

Leo Gager hat es so weit gebracht, dass man in der Branche Hochachtung hatte vor ihm. Journalisten sind bekanntlich Leute, bei denen Zynismus und Alkohol ein natürliches Verhältnis miteinander haben; zwei Hände walten da und greifen so ineinander, dass sich wie von selbst Meinungen zu Tatsachen denaturieren. Denen ist außer der Phrase kaum etwas heilig, und sogar diese ist eine von ihnen häufig angeschissene Göttin, aber eine Göttin immerhin. Aber vor Gager hatten sie Hochachtung.
Leo war ein kleiner, mittelrunder Mensch. Er hatte eine unabsichtliche Karriere hinter sich. Er wollte Reisender werden. Schon als Jugendlicher wollte er sich andauernd in die Büsche schlagen, was fotografieren, was holzen, was missionieren was pflanzen, fremdeln. Doch sein Gedächtnis war zu gut. Menschen, die sich viel merken, sind selten und kommen erst recht nicht ins Paradies. Denn zuerst kommt ihnen alles Fremde bekannt vor, danach ist wegen ihrer schnellen Merkfähigkeit das Lernen kein Prozeß, sondern bloß ein Schluck, schließlich ist nur das Unmerkliche wirklich und kann interessieren.
Gager hatte das Gefühl, einzig zwischen den Wörtern und in der Liebe seine mächtige Fremdsucht befriedigen zu können.
Jedenfalls brachte ihn sein Gedächtnis in die Meinungsbranche, und einmal dort, hielten ihn die Macher an Händen und Füßen in ihren Redaktionen fest.
Zuerst saß er in Bibliotheken und Archiven von neun bis eins und blätterte alte Zeitungen durch sowie Dokumentationen und Dossiers. Nachmittags setzten sie ihn in einen großen Ohrensessel, stellten Getränke und Brötchen auf seinen Schreibtisch und kamen ihn fragen. Er leistete Widerstand bloß in der Form, dass er sich weigerte, telefonisch Auskunft zu geben, denn wenn sie sich schon Archiv und Computer sparen, dann haben sie gefälligst daherzukommen und "wie geht's" zu fragen, bevor sie was wissen wollen.
Mit der Zeit wurde ihm das Herumsitzen im Ohrensessel zu fad. Angewidert las er die Artikel seiner Kollegen, denn es ging ihm nicht ein, warum jede von ihm erinnerte Tatsache in den Artikeln so zerfasert und mit anderen Tatsachen so ermischt wurde. Was die Kollegen noch an sogenannter Fantasie hinzutaten, verbitterte ihn vollends, so dass er sich entschloß, selber Artikel anzufertigen.
Dazu musste er mehrmals die Zeitung wechseln. Schließlich fand er in einer seine Spielwiese, und dort betrieb er das Ausbaldowern von Tatsachen und das Zusammenhängen von Interessen wie ein Botaniker.
Immer schon ist ihm die Politik zum Hals herausgehangen. Er warf sich auf Kriminalfälle, de ohnedies genug Politisches enthielten. Er wurde einer der bestinformierten Menschen in diesem Land, und da er sich zumeist persönlicher Stellungnahme enthielt, ward er - um es journalistisch zu sagen - zum Gewissen. Doch eigentlich wusste Gager, wie er wusste, gar nichts, denn es interessierte ihn kaum.
Wenn die Tatsachen für sich selbst sprachen, ward alles sehr grauslich, aber Leo Gager war nie auf die Idee gekommen, was anderes anzunehmen, als dass die Wirklichkeit selbst grauslich ist.
Ich schaufelte Tatsachen in die Öffentlichkeit. Ich weiß daher, dass der Mensch eine Sau ist, sagte Gager zu Gottfries Aper am Beginn ihrer Bekanntschaft.
Und was wollen Sie? Fragte der Poet.
Verschwinden. Zwischen den Wörtern. Wie Sie.
Wie ich? Ach so. Aha, wie ich.

 
 
 
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GEBÜRTIG
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