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Kleine Geschichte des Verschwindens [Fortsetzung 3]
c) Die Geschichte Birnbaum
Kurz vor ihrem Verschwinden brachte Rosa eines Samstags den Literaten
Gottfried Aper in die Gager-Hütte. Der las Gedichte des Paul
Celan vor. Die Räucherstäbchen brannten, aber Gager
hörte auf, sie zu riechen, denn er bemerkte entsetzt, aber
beglückt, dass er entweder in den Versen des Celan oder jedenfalls
in der Stimme Apers verschwand. Vor seinen Augen standen Riesen-Bilder,
gastliche Gletscherstuben, Wanderstauden, Denkkiemen, Königsgeburten,
jüngste Blätter, Stoßzähne und Sperrzauber,
und Leo war innendrin. Nach der Lesung tauchte er wieder auf,
das nahm er an; Rosa starrte ihm ins Weiße seiner Augen
und murmelte:
Seltsam. Du magst Gedichte?
Das ist mir neu, antwortete er und wurde rot. Aper schaute rüber
zu ihnen:
Pauls Gedichte, das ist eine Reise ins Sprachland.
In unser aller Land. In Niemandes Land.
Sie haben recht, antwortete Gager. Ich versteh keine Silbe. Es
ist wunderbar.
Ich habe geglaubt, sagte Rosa, ich kenne dich.
Es ist wunderbar.
Sie erstaunen mich, Gager, sagte Aper.
Schreiben Sie auch Gedichte? fragte Gager und hob seinen Kopf.
Unglücklicherweise. Gager stand auf:
Ich will welche hören.
Das lässt sich machen. Die beiden Männer vereinbarten
einen Termin.
2. Aper und die Erinnerung der Erfahrung
Der Mensch Artur Birnbaum begann dunkel seine Geige zu streichen.
Apers Gedichte erschienen dem Gager im doppelten Geheimnis. Da
saß ihm der knapp dreißigjährige dürre Mensch
gegenüber, sprach über dies und das in einfacher, direkter
Rede; das Hin und Her der üblichen brüderlichen Bedeutungen,
die sich im Sinn stets zu bekriegen schienen, wich in Apers Rede
einem fast einfältigen Dahertrotten von Eins-nach-dem-Anderen.
Diese Einfalt hatte, das merkte Gager sofort, etwas Kippiges,
nicht Fassliches; eine entfernte Bedrohung kam noch aus dem heitersten
Wortkringel herausgedämmert, dahingegen nach Gagers Erfahrung
ansonsten die verwickelten Sprechbäume und Sprechwälder
- häufig imponierend in Gehabe und Aufbau, pseudosachlich
und verschachtelt - auf sich selbst hinwiesen und ihm ganz und
gar banal vorkamen. Apers Rede aber war wie Gras.
Bei den Gedichten steigerte sich diese Klarheit und Bedrohung
ins Unverständliche. Wiederum zog es Gager zwischen den Wörtern
in eine unbekannte Landschaft, die mit seltsam wahrhaftigen Bauchherzen
bevölkert war, vielstimmig schwieg, breite sowie scharfe
Gebilde aus Gagers öffentlicher Erfahrung herausschnitt,
wendete, drehte und zum Verschwinden brachte. Während sein
Gehirn sich mehr und mehr befrostete, fiel ihm das Blut in den
Bauch, und mit diesem musste er ins Land der Niemande reisen,
dort er stets vorfand, was er wusste, als seis das erste Mal.
Nachdem Aper einige Texte gelesen hatte, schlug er sein Heft zu,
bestellte Kaffee und begann Gager auszufragen. Sie wechselten
ein paar Mal das Lokal, begannen einander zu duzen, und Gager
stellte fest, dass er den Literaten liebgewonnen hatte.
Brinbaum stand vor dem Spiegel und strich dunkel die Geige. Keiner
hörte noch zu. Aber Lene rief an. Birnbaum solle übernächsten
Tag zu ihr und ihrer hinfälligen Mutter fahren und unterwegs
das und das besorgen.
Was fange ich mit der Geschichte Birnbaum an? Ich gehe fort in
die Stadt. Was hat es denn für einen Sinn, Rosa zu suchen?
Im Café Museum entdecke ich Mats Anderlein, gehe auf ihn
zu und bitte ihn, meine Freundin Rosa Palota ausfindig zu machen.
Ich hätte, sage ich ihm, mit der burgenländischen Sache
genug zu tun und - wie er sich denken könne - auch nicht
die Kühle und den Nerv für eine solch peinliche Recherche.
Anderlein stimmt zu. Ich gehe wieder heim. Seufzend setze ich
mich zur Maschine. Mir ist nicht leichter, obwohl das zu erwarten
war. In dieser Nacht werde ich wohl die Geschichte Birnbaum niederschreiben.
Als Rosa verschwand, erzählte Gager seinem neuen Freund Gottfried
Aper alles über sein Liebe zu ihr; er hatte keinen Schimmer,
weshalb sie weggegangen war. Nichts deutete auf diese Tat hin.
Es war immer alles wie sonst. Aper fragte den Gager nach Rosas
Gewohnheiten und anderen Dingen aus, aber Gager wusste alles und
nichts. Gegen Schluß dieser Unterredung machte Leo Gottfried
den Vorschlag, das poetische Verfahren bei ihm zu erlernen.
Die Welt ist voller Tatsachen. Ich bin angestopft mit Pöbel
und Trödel. Ich will verreisen ins Ungefähre, dorthin,
wo Platz ist und Fremde. Hilf mir beim Siedeln, Gottfried.
Ich kann dir Techniken bebringen, Disziplin, murmelte Gottfried.
Nach längerer Überlegung machte er den Mund auf und
fuhr entschlossen fort:
Denn das Phantastische wird durchsichtig und produktiv im knappen
Kleid. Meide das Autobiographische, vor allem im ersten Jahrviert.
Denn das schaut immer so aus, als wärs was, denn jeder hat
doch gelebt und gelitten, nicht wahr. Aber es ist nichts, Geseire,
lustig und traurig, Raunzereien sinds gegen bewusst gewordene
Zwänge. Poesie, wo bleibt die denn?
Na eben, erwiderte Gager.
Ich kann dir Techniken beibringen, Disziplin, wiederholte Gottfried.
Sonst nichts.
Dann los, sagte Gager und bedeckte mit der Hand seine Augen.
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