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Kleine Geschichte des Verschwindens [Fortsetzung 2]
b) Wo ist Rosa?
Der Geiger Birnbaum beschloß eines Nachts seine Frau umzubringen,
da sie nicht bereit war, von selbst zu verschwinden. Er hatte
ihr gesagt, hör zu, verschwinde, sie hatte geantwortet, warum
denn, ich liebe dich doch, liebst du mich nicht, er hatte gesagt,
klar liebe ich dich, was hätte er denn sonst sagen sollen.
So geht's nicht, dachte Birnbaum. Ich muß sie umbringe,
damit sie verschwindet.
Warum verschwindet nicht er? denke ich und schreibe weiter:
Warum verschwinde nicht ich? dachte Birnbaum in derselben Nacht,
da er beschloß, seine Frau umzubringen. Wie komme ich dazu?
Da Birnbaum nicht einsah, selbst zu verschwinden, kam er zu jenem
Entschluß.
Sich selbst so gesagt, ist noch nicht wie getan. Man muß
den Mörder nicht erwischen, ich hol mir ein Bier. Doch das
ist ganz uninteressant. Soll er sich erwischen lassen. Soll er
selber verschwinden. Er hat eine Wut, die soll verschwinden. Dann
soll er selbst verschwinden oder bleiben, das ist doch egal.
Birnbaum ist ein Geiger. Das heißt, er übt wo, geigt
wo, dann geht er heim. Dort ist seine Frau. Wenn er geigt, ist
er gespritzt und legt sich hinein ins Geigen. Wenn er aufhört,
quatschen ihn alle möglichen an, bewundern ihn, klopfen ihm
auf die Schulter, geben ihm Geld und so fort. Wenn er nicht geigt,
steht er nur so da. Kommt er heim, ist er zu Haus, und es kommt
das Essen, es kommt das Trinken, es kommt die Frau selbst. Nie
ist sie fort, außer sie ist grad weg. Wenn sie weg ist,
ist sie bei ihrer Mutter und hält ihr die Ohren hin. Kommt
sie dann heim, redet sie dafür dem Birnbaum die Ohren voll.
Er sitzt da und isst und trinkt und hört, und wenn er die
Augen zumacht und sie aufhört mit dem Reden, kommt sie spüren
und tasten und greifen. Bald hat Birnbaum weder den Mund frei
noch die Hände. Aufgescheut von ihrem ständigen Dasein,
beginnt er sie zornig zurückzustoßen, bis es ihm kommt.
Ihr machts anscheinend nichts aus, denn sie schmiegt sich regelmäßig
nachher noch eine Zeit an, aber da schläft er, und sie ist
weg, bis sie in der Früh wieder da ist so fort. Nach dem
Frühstück geht er in den Geigenkaten und macht die Tür
zu. Nein, besser, er geht üben in ein Orchester.
Ich überlege. Ist es Rosa so mit mir gegangen? Gottfried
hat von mir verlangt, eine Story zu machen, die nichts mit mir
zu tun hat. Ich soll am Allgemeinen das Banale abarbeiten. Wie
bringe ich diese Geschichte zuwege, da doch Rosa verschwunden
ist? Ich kann doch keine Umkehrgeschichte schreiben. War ich zu
Rosa wie Birnbaums Frau zu Birnbaum?
Als Leo die Rosa kennenlernte, war er so erfolgreich wie verzweifelt.
Rosa Palota war eine quirlige dreißigjährige Lehrerin.
Aus ihrer verklungenen Ehe brachte sie einen irritierten Achtjährigen
mit, dessen Kämpfe um Rosa sich zum Zeitpunkt des ins Geschehen
tappenden Gagers eher noch steigerten. Als Gager sie wahrnahm,
hob er den Kopf und begann sich unter den Blicken Rosas als ganz
anderer Mensch zu empfinden. Ohne nach rechts oder links zu schauen,
überließ er sich sofort dieser Fremdheit. Wochenlang
spazierte er neben der Lehrerin her, bis er sowohl die Stadt Fünfkirchen
als auch die inneren Rituale eines gewissen Bela sehr gut kannte.
Sein Gedächtnis zerstreute sich in die Weitläufigkeit
einiger ungarischer Vergangenheiten, und die Verzweiflung schuppte
ab.
Nach nicht ganz sechs Monaten zogen Rosa und Sohn Andreas in die
Gagerwüste und begannen sie zu bewässern.
Gager hatte keine Freunde, aber nun brachte Rosa einen bunten
Hund nach dem andern, eine Szene in die Hütte, darunter auch
Bela, mit dem sie anscheinend jetzt in einem klaren, wenn auch
etwas abgekanzelten Verhältnis stand.
Angesichts dieser Frau wurden auch die Kollegen Leos lebendig,
vor allem Mats Anderlein gestand dem stummen Gager er hätte
es nie für möglich gehalten, dass dieser ein Mensch
sei. Rosa verfügte über eine Rund-um-die-Uhr-Bildung;
da sie viel und gern redete, konnte sie auch sehr merkwürdige
Geschichten aus anderen herausholen. Dazu kochte sie, organisierte
sie, gab sie sich, nahm sie sich, spielte sie sich, und die Schatten
wichen. Gager fand sich erstaunt in seiner eigenen Wohnung auf
neuen alten Teppichen liegend zwischen Räucherstäbchen,
Teekulturen, Musik fremder Art, und er lachte.
Wenn sie zusammenlagen, Rosa und er, wurde es für Leo vielgestaltig,
unumwunden, abgepresst, linkshändig, bittersüß,
ineinander zugleich verschwommen und bizarr, nichts glich sich,
und alles war eins, und er lachte.
Erzähl mir von dienen Frauen, sagte Rosa.
Ich erinnere mich nicht, antwortete Leo.
Du und dein Gedächtnis, ihr zwei gehört wohl zusammen,
sagte sie.
Wie Kain und Abel, sagte er, und er lachte.
So ging die Zeit. Andreas wollte zu seinem Vater, Rosa wollte
dies verhindern, etliche Monate ging ein Kampf hin und her, Leo
hielt sich heraus.
Eines Tages gegen sechs nimmt Rosa den Mantel, beugt sich zu Gager
hinunter und küsst ihn.
Adieu, Leo. Ich gehe. Ich komme nicht mehr. Und macht die Tür
zu. Gager sitzt da zwischen den Räucherstäbchen und
dem anderen. Er hält sich heraus.
Birnbaum spielte schön am Abend nach dem Entschluß,
seine Frau umzubringen. Er ging ins Wirtshaus, trank was und schickte
sich an, den Entschluß in die Tat umzusetzen. Aber daheim
fand er bloß den Zettel: Mama ist krank, bin rasch zu ihr
gefahren.
Ruf mich an. Bussi. Lene.
Zu blöd, dachte Birnbaum. Die hat einen Riecher. Ich sitz
vor der Schreibmaschine. Alles ist so entfernt, das Telefon läutet.
Schon von Rosa gehört?
Nein, Gottfried.
Kommst du in der Geschichte weiter?
Ich hab noch paar Tage.
Und sonst?
Ich weiß nicht.
Such sie doch!
Was?
Such sie. Vielleicht will sie gefunden werden.
Verschwundene kann man doch nicht suchen.
Doch, doch.
Verschwundene tauchen auf.
Ertrunkene tauchen auf, Leo, Ertrunkene.
Wahrscheinlich hat man sie getötet, Gottfried.
Komm komm, Leo!
Ich sitze vor der Schreibmaschine. Aber dann muß ich die
Augen bedecken.
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