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Fortsetzung 2
Ein Feuerchen im Hintennach
(Für Dagobert und Karl Wolf Biermann)
I
1 Ich bin im Hintennach ein Feuerchen
2 Rutsche durch Landschaften, ich ruhe gut, ein Reisender.
3 Zwischen den Amtsgewalten zur Verbesserung des Menschen
4 Lutsch ich mich selbst bis hin zum Aha. Es schmeckt süß.
5 Davongelaufen sind die mit dem Rucksack unterbrust
6 Zu einer ruhigen Sonderfläche namens Andersleben
7 Sind von den wirren Wäldern langgeweilt umzingelt,
8 Die Bäche gehen träge kreuz und quer, es lebt sich.
9 Mag sein, ein junges Tier, vorbeigegangen ists
10 An meinem Zwischenzauder, quert die Wälder
11 Und findet statt bei jenen Abendsassen
12 Doch wenns danach noch redet stirbts danach womöglich.
13 Ich bleib das Hintennach und muß ins Vornehin durch Rauch
14 Sodaß ich knurrend hust in den Gedächtnissen:
15 So sei doch solidarisch. Denk an dich. Zerbeiß die Knochen.
16 Und hebe nichts als was dich in die Flucht bringt.
II
17 Wohin noch flüchten? Nah des Baches Nachtmäander
18 Verflüstern sich die zögerlichen Wandersassen
19 Und kommentieren mir mein schwarzes Haar ins Graue
20 Entnehmen rucksackweis Fleischstücke und sie braten
21 Die Hoffnungen zu Schmalz und Kruste
22 Trinken den Roten, singen Internationale
23 Fahren mit bloßen Panzern ins Geschlecht
24 Ihriger Wörterfraun, lagern am Bach hernach und träumen
25 Sich unversehrt ins Komitee der Weltgeschichte.
26 Ich dorthin nicht. Als Hintennach, als Feuerchen
27 Wend ich mich nordnordsüd zum Wörterdelta
28 Da ja versammelt ward, was je die Krähen sprachen.
29 Stumm ist das Heim der aushäusigen Wörter
30 Von außen ziehts, und innen ist das Blut
31 Erinnerlich die eigentliche Sonderfläche
32 Dort ich mich schwimmend strecken kann, daheim, daheim.
III
33 Auch ein Daheim. Die Meinigen sind ausgehaust
34 Schon längst und haben im Rumbulawald nächst Riga
35 Sich zum Skelett gestreckt und knurrend schlafen sie mein Schlaf
36 Unschuldig wie vertilgte Tierchen wittern sie bei diesen. Salomon.
37 Vererben uns nur ihre dreisten Träume die sich
38 Mit meinem Leben mischen ein Feuerchen im Hintennach
39 Rutsch ich entlang der Menschenlandschaft
40 Hin zu den Öfen, doch so kalt war nie ein Ofen
41 Als der als welcher er dort steht mit vollem Bauch
42 Der Anverwandten ist er jetzt prachtvoll Gedenken
43 Und Lebensmenschen landen da mit Düsenjägern
44 Schreiten einher, ein Walzer, schmücken ihn mit Pflanzen
45 Mit Schleifen, darauf Wörter, nie vergessen,
46 Und Totenwürde, Lebensrest, ich bleib als Sasse
47 Im Adijöh zurück, so ist mir rätselig
48 Die Sonderfläche meines Daseins.
IV
49 Und schuldig ich, und wie, ein Halbgerechter
50 Denn ich vergnüg mich gar nicht schlecht in deutschen Landen
51 Schütte entlang der Wiener Donau meinen Samen
52 Ins helle Lachen und mein Blick geht in die Belsen fremd
53 Hinein in die Konturen innerlicher Keuchkommandos
54 Denn Feuerchen bin ich im Hintennach, da drechsel
55 Ich Wörter noch und noch, damit vor mir da liegen
56 Die Augenspiele aus den frühen Wäldern
57 Lieb ich die Nähe flieh mich ins ganz Nahe
58 Sodaß die ferne Zeit mich sprachlos bloß umzingelt
59 Wächst mir der Rucksack mit den Knochen unterbrust
60 Ich fall nach vorn auf meine Sonderfläche. Salomon.
61 Davongelaufen sind mir viele die ich mochte
62 Auch wenn sie ihr Gestorbensein als Ehrgeiz hin und her
63 Gewendet hatten, so als ob sie knurren können
64 Als ob ich atmen kann und knurrn im Hintennach zuhaus.
V
65 Und geh mit meiner jungen Liebe gehe ich nach Belsen
66 Nach Binsen und Verschleiß geh ich mit Li
67 Steh vor den großen grasbewachsnen Hügeln
68 Worein sich je die Tausenden verrottet krümmten
69 Und dort ich steh und geh zwischen den Hügeln
70 Schläft keiner von den Toten seinen Tod zu End
71 Fahren die Natopanzer klirrend durch den Schlaf
72 Schießen Granaten ab, so schießts und kracht es dauernd.
73 Was Bergen Belsen sonst einst war, es ist ein Truppenübungsplatz
74 Mitten in Deutschland, nicht in Thule hinter Vineta
75 Nah Celle ist zuhaus der Trauerfluß von dem
76 Die Energie für Künftiges geliefert wird. Ein Monument
77 Des Ernstes und der Sammlung Anne Frank
78 Kauert wohl sprungbereit im Staub der Lüneburger Heide
79 Und leg ich dennoch einen Stein auf einen ihrer Hügel
80 Bis mich die deutsche Freundin nimmt um meine Hüften schnell.
VI
81 Und fahren wir zurück unter dem großen bleichen
82 Und Himmel Norddeutschland, sind Tränen schon
83 Längst eingesammelt in den Schrein der Leidenschaft.
84 Ich liege bei der Deutschen da in Deutschland.
85 Und stehe auf, besteige frei den Zug. Komme
86 Zurück, ein Feuerchen von Hintennach,
87 In meine Wortheimat, mein Wien am Donaufluß
88 Dort lächelt sich Vergangenes hinein
89 In die etwelche Gegenwart, in allen Beiseln
90 Sitzen die Lachenden mit Rotwein in den Gurgeln
91 Schlempern den Lethefluß, der kreuz und quer der Hofburg
92 Unserem Vergessenskaiser wäscht die Zehen blutig.
I
Das lange sechsteilige Gedicht "Ein Feuerchen im Hintennach"
ist eigentlich eine Art von Selbstportrait Schindels oder jedenfalls
das Portrait eines Menschen, dessen Leben und Lebensphilosophie
vieles mit ihm gemeinsam haben. Es spielt an mehreren Orten. Der
mit I überschriebene Teil ist vielleicht als eine Einleitung zu
betrachten, wo das männliche Ich des Gedichts von Wien aus, das
er als seine "Wortheimat" (87) betrachtet, über seine Situation
reflektiert. Sein Leben ist nicht unangenehm. Er sieht sich als
einen, der die Welt kennenlernt: "Ich ... rutsche durch Landschaften
... ein Reisender" (2). Es geht ihm gut, er kann auch gut schlafen
-"ich ruhe gut" -im Gegensatz zu den Holocaustopfern (70), die
sogar im Tode noch keine Ruhe finden. Um dies zu erklären, springe
ich vor zu Zeile 71ff. Die Holocaust-Toten finden keine Ruhe,
einerseits, weil etwa die Natopanzer in Bergen-Belsen unter Krachen
und Schießen ihre Truppenübungen abhalten, andrerseits aber vielleicht
auch, weil sie noch immer nicht Genugtuung bekommen haben für
den ungerechten Tod, den sie erlitten haben.
Das Ich des Gedichts lebt in Wien (87), wo bekanntlich der Bürokratismus
der Ämter blüht. Er aber versteht es gut, daran vorbei oder darum
herum zu kommen. "Zwischen den Amtsgewalten zur Verbesserung des
Menschen/ Lutsch ich mich selbst bis hin zum Aha" (3f.). Man lutscht
ein Eis oder ein Bonbon. Das ist ein langsamer, allmählicher Vorgang.
Nur so kann es gelingen, die Amtsgewalten zu vermeiden und sogar
bis "zum Aha" (4) zu gelangen. Das "Aha" ist hier wahrscheinlich
ein Aha-Erlebnis, also ein überraschendes Erlebnis, eine Art von
Offenbarung, die man nur als freies Individuum erleben kann. Jemand,
der sich der Herrschaft des Amtsschimmels unterwirft oder unterwerfen
muß, wird ein solches Erlebnis nie haben können. Ein. Leben mit
dem Gefühl der Freiheit ist schön. "Es schmeckt süß" (4). Dieses
Gefühl der Freiheit wird später in Zeile 85 noch einmal angedeutet.
Es steht wohl im krassen Gegensatz zu dem Gefühl des Getrieben
und Verjagtwerdens der Holocaustopfer, wie dies etwa in Zeile
33 angedeutet wird: "... Die Meinigen sind ausgehaust..."
Es gibt viele, die einen "Rucksack unterbrust" (5) tragen. Das
sind wahrscheinlich Menschen, die sozusagen einen Rucksack voller
Sorgen oder Trauer, vielleicht auch voller Hoffhungen auf eine
bessere Zukunft mit sich herumschleppen. Sie tragen diesen Rucksack
aber "unterbrust" und nicht auf dem Rücken, wo man normalerweise
einen Rucksack trägt, den man freiwillig geschultert hat. Dieser
Rucksack lastet "unterbrust," dort also, wo Herz und Gemüt sitzen.
Man kann ihn eigentlich auch nicht ablegen, sondern man trägt
ihn mit sich als Teil seines Körpers.(10) Wer sind nun diese Menschen,
die einen solchen "Rucksack unterbrust" (5) tragen? Gemeint sind
wohl vor allem Menschen, die - wie Schindel selbst direkt oder
indirekt durch den Holocaust gelitten haben und die dieses "Erbe"
nun immer und überall mit sich tragen müssen. Gemeint sein könnten
aber auch andere, die sich aus der Gesellschaft ausgestoßen fühlen,
wie etwa jene die "Internationale" singenden Kommunisten im Teil
II des Gedichts.
Viele von diesen Menschen, denen eine solche innerliche Last
aufgebürdet wurde, haben sich abgesondert von der Allgemeinheit
"Zu einer ruhigen Sonderfläche namens Andersleben" (6) und leben
so ganz gut ein bequemes Leben. "Die Bäche gehen träge kreuz und
quer, es lebt sich" (8).
Das in Zeile 5ff. angedeutete Bild des Davonlaufens in eine Wald-
und Bachgegend wird weitergeführt. Auch das Ich des Gedichts hat
sich auf den Weg dahin begeben. Er ist aber nicht sicher, ob es
richtig ist, sich so abzusondern. So macht er vielleicht Pause,
um zu überlegen. Das könnte mit dem Wort "Zwischenzauder" gemeint
sein. Ein junges Tier kommt vorbei an der Raststelle des Ichs
und geht dann weiter zu den anderen, die sich abgesondert haben,
zu den "Abendsassen". Dieses Wort "Abendsassen" weist einerseits
voraus auf Zeile 20ff., wo diese Menschen am Abend in einem Camp
gezeigt werden. Andererseits sind diese sich Absondernden insofern
"Abendsassen", als dies Menschen sind, die sich zur Ruhe setzen
wollen, anstatt aktiv ihre Probleme und die Probleme der Welt
zu lösen versuchen. Das erwähnte junge Tier kann also weiter gehen
zu den Abendsassen und dort eine Rast-"statt" finden, genauso
wie das Ich des Gedichts sich ihnen anschließen kann. Aber das
Tier riskiert doch einiges. Vielleicht verliert es sein Leben
und wird gebraten wie die Fleischstücke in Zeile 20. Ich glaube,
daß das Ich des Gedichts seine Situation mit der des jungen Tieres
gleichsetzt. Auch er wird in gewisser Weise "sterben," wenn er
sich diesen "Abendsassen" anschließt. Eine Bestätigung dieser
Interpretation bietet Zeile 62, wo dieses Davongelaufensein mit
"Gestorbensein" gleichgesetzt wird. Die Interpretation, daß er
seine Lage mit der des jungen Tieres vergleicht, wird auch unterstützt
durch Zeile 36, in der die Verwesung der Holocaustopfer in ihren
Gräbern mit der Verwesung unschuldig vertilgter "Tierchen" verglichen
wird.
Der Sprecher im Gedicht - vielleicht gleichzusetzen mit Schindel
selbst kann aber nicht einfach das Vergangene vergessen, er fühlt
sich als Holocaust-Nachkomme: "Ich bleib das Hintennach und muß
ins Vornehin durch Rauch/ Sodaß ich knurrend hust in den Gedächtnissen"
(13f.). Das Bild der campierenden "Abendsassen" wird weitergeführt.
Das zuerst noch hinten gebliebene Ich des Gedichts kommt schließlich
zu ihrem rauchigen Campfeuer. "Ich bleib das Hintennach und muß
ins Vornehin durch Rauch" (13). In der übertragenen Bedeutung
sind dann die "Gedächtnisse" (14) die Erinnerungen an die umgekommenen
Opfer des Holocaust. Diese wirken wie Rauch, der zum Husten bringt.
Diese "Gedächtnisse" sind gewissermaßen lästig so wie Rauch. Er
möchte sie abstreifen, aber sie sind so wie Rauch, den man einatmen
muß. Er muß husten, mag er noch so darüber "knurren". Vergeblich
redet er sich zu oder reden die andern ihm zu: Mach es wie die
andern, denk an dein Wohl, schluck die Vergangenheit hinunter,
und rette dich, indem du wie die andern flüchtest. "So sei doch
solidarisch. Denk an dich. Zerbeiß die Knochen./ Und hebe nichts
als was dich in die Flucht bringt" (15f.), in die Flucht nämlich
"Zu einer ruhigen Sonderfläche namens Andersleben"(6).
II
Im zweiten Teil des Gedichts sehen wir eine Gruppe solcher Leute,
die sich geflüchtet haben. Die Szene ist vielleicht ein Abend
an einem Campfeuer, weg von anderen Menschen. Es könnte übertragen
aber auch jede Situation gemeint sein, bei der eine Gruppe sich
zu isolieren versucht. Hier handelt es sich um eine Gruppe junger
Kommunisten.(11) Man sitzt um das Feuer, man redet dem Ich des
Gedichts zu, wie schon in der vorigen Strophe (15f.) formuliert:
"So sei doch solidarisch. Denk an dich. Zerbeiß die Knochen./
Und liebe nichts als was dich in die Flucht bringt." Man argumentiert
und kommentiert "[sein] schwarzes Haar ins Graue" (19). Das heißt
wohl, daß solche Gespräche ihn bedrücken.
Diese ihn überreden wollenden Menschen mißfallen dem Ich des
Gedichts. Ich glaube, sie mißfallen ihm, weil sie zwar anders
sein wollen, aber in Wirklichkeit eigentlich doch nicht anders
sind als Durchschnittsmenschen. Es wird gegrillt und Rotwein getrunken.
Die "Internationale," also die Hymne der internationalen kommunistischen
Arbeiterbewegung, wird gesungen. Es wird zwar viel geredet, doch
wenig geleistet. Sie "Entnehmen rucksackweis Fleischstücke und
sie braten/ Die Hoffnungen zu Schmalz und Kruste/ Trinken den
Roten, singen Internationale" (20ff.) Diese Leute tragen offenbar
den Rucksack nicht "unterbrust" (5), sondern sie haben ihn abzulegen
versucht wie einen normalen Rucksack. In dem Rucksack aber waren
Hoffnungen auf eine Besserung der Welt. Diese Hoffnungen werden
nun "zu Schmalz und Kruste" gebraten, d. h. sie werden zunichte.
Anstatt wirklich etwas zu unternehmen für die Gleichheit aller
Menschen, bleibt es eben beim Reden, die einzige Aktion, die hervorgeht
ist der - vielleicht kampfartige - Beischlaf. Sie "Fahren mit
bloßen Panzern ins Geschlecht/ Ihriger Wörterfraun, lagern am
Bach hernach und träumen/ Sich unversehrt ins Komitee der Weltgeschichte"
(23ff.).
Was Schindel unter "Wörterfraun" versteht, ist nicht ganz eindeutig.
Vielleicht sind das Frauen, die nur den "Wörtern"(12) nach, also
dem Gerede nach, nicht aber den amtlichen Dokumenten nach ihre
Frauen sind. Vielleicht sind das Frauen, die ihren "Wörtern" nach,
ihrem Gerede nach mit den Männern dieser Gruppe übereinstimmen.
Das Ich des Gedichts kann sich mit diesen Leuten nicht identifizieren:
"Ich dorthin nicht. Als Hintennach, als Feuerchen" (26) wendet
er sich "nordnordsüd zum Wörterdelta" (27). Er muß für sich alleine
eine Antwort finden auf die Frage, wie er sein Leben leben soll
und speziell, wie für ihn der Holocaust zu verarbeiten sei."[N]ordnordsüd"
heißt in diesem Kontext vielleicht: Er begibt sich in den extremen
Norden, nämlich in die Rigaer (34) Gegend und von dort südlich,
vielleicht nach Buchenwald oder auch nach Auschwitz (39ff.) und
schließlich nach Bergen-Belsen (65).
Hier an den Hinrichtungsstätten wie etwa im Rumbulawald bei Riga
(34) oder in den Konzentrationslagern wie etwa in Bergen-Belsen,
da wurden Menschen - vor allem Juden - zusammengetrieben, die
alle möglichen Sprachen redeten. Darauf bezieht sich vielleicht
das "Wörterdelta/ Da ja versammelt ward, was je die Krähen sprachen"
(28). Die Krähen (28, auch 95) sind gescheite, aber meistens nicht
beliebte Vögel. Hier symbolisieren sie wohl die Juden. Kommt man
jetzt an diese Holocauststätten, so ist es stumm dort. Niemand
der dort umgekommenen Menschen spricht mehr. "Stumm ist das Heim
der aushäusigen Wörter/ Von außen ziehts" (30). Das Ich des Gedichts
aber wird sich seiner Person und seiner Situation hier erst so
eigentlich bewußt: "... und innen ist das Blut/ Erinnerlich die
eigentliche Sonderfläche" (30f.). Es wird ihm plötzlich klar,
daß diese Stätten des Todes sein eigentliches Daheim sind. Das
ist die "eigentliche Sonderfläche" seines Daseins. Nur da und
nur so kann er sich "schwimmend strecken," da ist er "daheim".
"Dort ich mich schwimmend strecken kann, daheim, daheim"(32).
Das heißt, es ist keine Lösung, einfach davonzulaufen zu einer
"Sonderfläche namens Andersleben",(13) sondern sein Leben muß
die Holocaust-Vergangenheit einbeziehen können, sie ist die "eigentliche
Sonderfläche" (31), auf der er existieren kann. Die Vergangenheit
darf nicht einfach verdrängt werden. Wirkliche Freiheit gewinnt
man nicht durch Davonlaufen, sondern in dem man sich mit den Gegebenheiten
auseinandersetzt. Nur so kann man - kann das Ich des Gedichts
- sich "schwimmend strecken," (32) oder den [Lebens-]Zug "frei"
besteigen (85).
III
Auch eine solche Situation kann eine Art von" Daheim" sein. Die
Aushausung der Angehörigen des Ichs im Gedicht ist schon lange
her, die Toten liegen schon lange nicht mehr verkrampft im Grab,
sondern sie haben sich schon lange "zum Skelett gestreckt und
knurrend schlafen sie mein Schlaf" (35). Sie schlafen knurrend
seinen Schlaf, heißt, sie stören seinen Schlaf dadurch, daß er
sich immer wieder, ob er will oder nicht, mit ihrem schrecklichen
Schicksal auseinandersetzen muß. "[K]nurrend schlafen sie," weil
sie ja alle noch gerne gelebt hätten. Jetzt aber [ver]"wittern"
sie "Unschuldig wie vertilgte Tierchen"(14) Seite an Seite mit
eben diesen Tierchen. Vergeblich befragt man Salomon den Weisen,
wie man sich dazu verhalten soll. (37ff.:) Alles was nun von diesen
Menschen noch übrig ist, sind "ihre dreisten Träume," also Träume
vielleicht von Lebensmut und Unternehmungsgeist, die in ihren
Nachkommen weiterleben.
Die nächste Station in der "Menschenlandschaft" (39) ist ein
Konzentrationslager mit Verbrennungsöfen. Aber zunächst kurz zu
dem Wort "Menschenlandschaft": Das kann bedeuten "eine von Menschen
geformte, geprägte Landschaft," es kann aber auch bedeuten "eine
Landschaft, wo man immer wieder auf Menschen trifft." Schließlich
könnten damit auch die durch die toten Menschenleiber gebildeten
Hügel der Landschaft gemeint sein, wie etwa in den Zeilen 67,69.
Das Ich des Gedichts "rutscht" weiter "Hin zu den Öfen" (40).
Eine Gedenkstätte menschlicher Greuel wie etwa ein Verbrennungsofen
der Nazis kann heutzutage für einen feinfühligen Menschen sehr
leicht seine beabsichtigte Wirkung verfehlen. Das Ich des Gedichts
erlebt hier folgendes: Die Menschen, die "Lebensmenschen" (43)
kommen vielleicht mit dicken Autos zu diesen Gedenkstätten angefahren,
oder ein Staatsoberhaupt samt Entourage landet etwa gar in einem
Düsenjäger.(15) Musik wird gespielt, vielleicht nicht gerade Walzer,
wie es in Zeile 44 heißt, aber immerhin Musik. Kränze und Schleifen
mit Wörtern werden niedergelegt. Worte werden gesprochen. Die
Wörter auf den Schleifen und die gesprochenen Worte versprechen,
daß die Toten nie vergessen werden, sie sprechen von der Würde
der Toten. Das ist also der Rest des Lebens derer, die da umgekommen
sind. Sie sind keine "Sassen"(16) mehr, keine Ansässigen, keine
Einwohner also. Sie sind schon lange "ausgehaust" (33), sie sind
ohne Heimstatt, der Heimat beraubt, unbeheimatet.
Das Ich des Gedichts aber bleibt "als Sasse/ Im Adijöh zurück"
(46f.). "Adieu" bedeutet eigentlich "Gott befohlen," es bedeutet
auch "Abschied." Beide Bedeutungen sind hier sinnvoll. Das Adieu,
der Abschied, die Situation der Trennung von den Seinen, das ist
die Sonderfläche [s]eines Daseins" (31, 48), auf der er "Gott
befohlen" leben muß. Diese "Sonderfläche [s]eines Daseins" ist
ihm "rätselig" (47), denn er weiß nicht genau, wie er sich angesichts
der Vergangenheit des Holocausts zu verhalten hat. Oder man könnte
"ich bleib als Sasse/ Im Adijöh zurück" paraphrasieren als: Beim
Abschied bleibt doch noch immer ein Teil von mir dort.
IV
Er fühlt sich schuldig und wie ein "Halbgerechter",(17) also
wie ein Mensch, der nicht ganz gerecht, nicht ganz ehrlich ist,
"Denn [er] vergnüg[t] [s]ich gar nicht schlecht in deutschen Landen"
(50). Er ist ein Mensch, der [s]ehr sinnenhaft und lebensfroh"(18)
ist. Es gibt vielleicht viele, die er mit seiner Liebe beglückt.
"Schütte entlang der Wiener Donau meinen Samen/ Ins helle Lachen"
(51f.). Zugleich aber geht "[s]ein Blick ... in die Belsen fremd"
(52). Das heißt vielleicht, daß ihn immer wieder der Gedanke an
seine Sondersituation beirrt. Mitten im Beischlaf mag ihn eine
solche Beirrung überfallen, mitten "Hinein in die Konturen innerlicher
Keuchkommandos" (53), denn er ist und bleibt eben doch ein Nachkomme
derer, die im Holocaust zugrunde gegangen sind. "Denn Feuerchen
bin ich im Hintennach" (54). Durch Schreiben versucht er die Situation
für sich zu klären, er versucht sich vorzustellen, wie sich in
der Vergangenheit in diesen Exekutionswäldem des Nordens die Tragödie
seiner Angehörigen abgespielt hat: "... da drechsel/ Ich Wörter
noch und noch, damit vor mir da liegen/ Die Augenspiele aus den
frühen Wäldern" (54ff.). Er versucht sich vielleicht freizuschreiben
von diesen immer wiederkehrenden Greuelvisionen.
Er liebt "die Nähe flie[ht] [s]ich ins ganz Nahe" (57). Vielleicht
ist das abermals(19) die Umarmung einer Geliebten, auf die hier
angespielt wird. Immer wieder sucht er solch menschliche Nähe,
denn da fühlt er sich von der Vergangenheit schwächer bedrängt:
"Sodaß die ferne Zeit mich sprachlos bloß umzingelt" (58).
Jedoch immer wieder "Wächst [ihm] der Rucksack mit den Knochen
unterbrust." "Ich fall nach vom auf meine Sonderfläche. Salomon"
(60). Die Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit ist etwas,
was nie erledigt ist, sie wird immer wieder aufs neue von ihm
verlangt. "Ich fall nach vom" bedeutet wohl, daß auch in der Zukunft
diese Auseinandersetzung stattfinden wird.(20)
Davongelaufen sind mir viele die ich mochte
Auch wenn sie ihr Gestorbensein als Ehrgeiz hin und her
Gewendet hatten, so als ob sie knurren können
Als ob ich atmen kann und knurrn im Hintennach zuhaus. (61ff.)
Viele Menschen, die er eigentlich gern hatte, haben sich von
ihm getrennt. Sie sind "Davongelaufen ... Zu einer ruhigen Sonderfläche
namens Andersleben" (vgl. 6f). Sie sind so gut wie gestorben (62),
sie setzen sich für nichts mehr ein mit der Begründung, daß dies
sowieso nur "Ehrgeiz" (62) gewesen sei. Ihm werfen sie wohl vor,
daß er nur aus Ehrgeiz über die Holocaustgreuel "knurrt." Als
Davongelaufene, als Gestorbene können sie nicht mehr "knurren."
Nur wer teilnimmt, kann knurren, kann seinen Protest verlautbaren.
Für ihn, der nicht davongelaufen ist, bleibt die Situation zwiespältig.
Er kann nicht atmen und knurren zugleich. "Als ob ich atmen kann
und knurrn im Hintennach zuhaus" (64). Das Atmen schließt das
Knurren aus und umgekehrt. Und doch wird ein Mensch wie er, einer
der "im Hintennach zuhaus" (64) ist, eben immer hin und hergerissen
sein zwischen dem Wunsch zu vergessen (= "atmen") und dem Drang,
sich dagegen aufzulehnen (="knurren").
V
Das Ich des Gedichts versucht zu leben, auch unter solch schwierigen
Bedingungen. Er geht mit seiner Geliebten Li (66), einer Deutschen
(66, 84) nach Belsen (65) und besucht dort das Konzentrationslager.
Er geht aber mit ihr auch "nach Binsen und Verschleiß" (66). "In
die Binsen gehen" heißt "verschwinden" oder auch "verbraucht zerstört
werden." Ich glaube, "nach Binsen und Verschleiß" (66) bedeutet
hier so viel wie, daß er mit ihr überall hin geht, durch "dick
und dünn" etwa.
Nun erlebt er mit dieser Geliebten den Holocaust-Friedhof von
Bergen-Belsen, sieht dort die großen Massengräber, wo Tausende
auf einmal verscharrt wurden. Er steht mit ihr "vor den großen
grasbewachsnen Hügeln/ Worein sich je die Tausenden verrottet
krümmten" (67f.). Aber selbst in diesen miserablen Gräbern finden
die Toten noch keine Ruhe, denn ganz in der Nähe ist nun dort
ein Nato-Truppenübungsplatz (71,73)."Und dort ich steh und geh
zwischen den Hügeln/ Schläft keiner von den Toten seinen Tod zu
End/ Fahren die Natopanzer klirrend durch den Schlaf/ Schießen
Granaten ab, so schießts und kracht es dauernd./ Was Bergen-Belsen
sonst einst war, es ist ein Truppenübungsplatz" (69ff.).
Mitten in Deutschland, nicht in Thule hinter Vineta
Nah Celle ist zuhaus der Trauerfluß von dem
Die Energie für Künftiges geliefert wird. (74ff.)
Hier mitten in Deutschland und in unserer Jetztzeit haben wir
also ein Beispiel für tragisches Vergessenwerden. Die sagenhaften
Orte Vineta(21) und Thule(22) sind Beispiele von Menschensiedlungen
in der Ostsee oder Nordsee, die vor sehr langer Zeit untergegangen
sind und vergessen wurden. Gewissermaßen sind sie im Trauerfluß
(75) Lethe, von dem auch in Zeile 91 die Rede ist, also im Fluß
des Vergessens untergegangen. Wir haben die Umstände ihres Unterganges
vergessen und nur wenig oder nichts daraus gelernt. Aber man braucht
gar nicht so weit weg oder so weit zurückzugehen, denn hier mitten
in Deutschland haben wir ein anderes Beispiel eines solchen Vergessens.
Daß an diesem Ort Bergen-Belsen, der ein "Monument/ Des Ernstes
und der Sammlung" (76f.) sein sollte, Truppenübungen der Nato
die Ruhe der Todesstätte stören dürfen, ist ein Beispiel tragischen
Vergessens, "von dem/ Die Energie für Künftiges geliefert wird."
Gemeint ist wohl "Künftiges" Schreckliches, gemeint ist wohl,
daß wir weder von Thule und Vineta, noch vom Holocaust genug gelernt
haben, um die Energie für künftige Greueltaten zu bändigen. Der
Trauerfluß des Vergessens ist auch hier "zuhaus" (75). ,
"Die Energie für Künftiges" (76) könnte aber auch eine Anspielung
sein auf die zahlreichen Erdölquellen ausgerechnet in der Nähe
von Celle, in der Nähe von Bergen-Belsen, die man nun zu nützen
begonnen hat. Daß das Erdöl keineswegs nur für humanitäre Zwecke
fließt, sondern auch die Energie liefert für Kriege und Unmenschlichkeiten,
beweist sich heute genau so wie in der Vergangenheit. Insofern
könnte dann auch das Fließen der Erdölquellen mit dem Trauerfluß
Lethe gleichgesetzt werden.
Die beiden vorgeschlagenen Interpretationen widersprechen einander
nicht. Sie laufen beide darauf hinaus, daß wir aus der Vergangenheit
nichts lernen, die Gefahr eines Holocaust ist keineswegs überwunden.
Bergen-Belsen sollte "Ein Monument/ Des Ernstes und der Sammlung"
(76f.) sein. Aber dies ist eben gerade nicht der Fall. Auch Anne
Frank, die im März 1945 in Bergen-Belsen starb, kann unter solchen
Umständen nicht zur Ruhe kommen. "Anne Frank/ Kauert wohl sprungbereit
im Staub der Lüneburger Heide" (78).
Ich glaube, Schindel empfindet hier, daß auch eine noch so gutgemeinte
Gedenkstätte nicht immer den Ernst und die Sammlung bewirkt, die
ihr gebühren würde; vor allem dann nicht, wenn - wie weiter vorne
in dem Gedicht "Lebensmenschen landen ... mit Düsenjägern" (43),
oder wenn im Hintergrund der Lärm von Natopanzern (71) zu hören
ist. Das Ich des Gedichts ist dennoch irgendwie ergriffen und
legt wenigstens "einen Stein auf einen ihrer Hügel" (79), um damit
den Hügel als Grabstätte zu kennzeichnen.
Dann aber faßt ihn wieder das Leben in Gestalt seiner deutschen
Freundin, die ihren Arm um seine Hüfte schlingt.
VI
Sie fahren zurück, wahrscheinlich in die Stadt, in der die deutsche
Freundin wohnt. Tränen über die Holocaustgreuel gehen vielleicht
über in Tränen der Leidenschaft, und er findet sich in den Armen
der Geliebten. "Tränen [sind] schon/ Längst eingesammelt in den
Schrein der Leidenschaft./ Ich liege bei der Deutschen da in Deutschland"
(82f.). Er kann in Deutschland eine Deutsche lieben, obwohl "die
Deutschen" und "Deutschland" verantwortlich sind für den Untergang
seiner Vorfahren! Das heißt, er kann leben und lieben, ohne daß
er die Vergangenheit verdrängen muß.
Am nächsten Tag steht er auf, fühlt sich nicht bedrückt, sondern
"frei" (85) durch das Liebeserlebnis. "Frei" ist er aber auch
im Gegensatz zu seinen Angehörigen, die durch Deutschland fuhren
als Gefangene. Er kommt zurück in die Gegenwart von einer Reise
in die Vergangenheit, er kommt zurück als "ein Feuerchen von Hintennach".
Er fährt zurück nach Wien. Zwar fühlt er sich in Wien nicht ganz
richtig daheim,(23) denn seine Heimat ist ja zugleich auch irgendwo
da draußen, wo die Reste seiner Angehörigen sind, aber Wien ist
immerhin seine "Wortheimat." Wien liegt am Donaufluß. Die Donau
ist auch ein Lethefluß(24) (91), ein Vergessensfluß, ein Trauerfluß
(vgl. Zeile 75). Doch in Wien da merkt man das nicht, da ist das
Vergangene kein Greuel, sondern es wird stets vergoldet und lächelt
sich (88) so in die Gegenwart hinein. Die Leute dort sind gemütlich,
sie trinken gerne Rotwein. Sie "schlempern den Lethefluß" (91).
"Schlempern" heißt "zu . viel trinken."(25) Vielleicht trinken
sie also oft zu viel, sodaß der rote Wein die gleiche Wirkung
hat wie der Fluß Lethe, der alles vergessen macht.
Dieser Lethefluß, mag er nun als Wein (91) oder Donau (87, und
Fußnote (24)) oder sonstwie (75) auftreten, scheint besonders
in Regierungskreisen zu fließen. Denn er ist ein Fluß, "der kreuz
und quer der Hofburg/ Unserem Vergessenskaiser wäscht die Zehen
blutig" (91f.). Wahrscheinlich ist dies eine Anspielung auf den
österreichischen Präsidenten Kurt Waldheim, der große Kontroversen
verursachte, weil er viele Details seiner Tätigkeiten während
der Nazizeit vergessen hatte.(26)
Das Ich des Gedichts - ein Mann fragt sich: "Daher bin ich geflohn?"
Er fragt sich damit, ob hier in dieser Vergessensstadt, in diesem
Land die "Sonderfläche" ist, auf der ein Mensch wie er existieren
kann. Die Antwort wird nur indirekt gegeben. Er geht spazieren
auf der Jesuitenwiese,(27) die sich in der Prater Au befindet.
Auch das ist wohl irgendwie ein zu Hause. Im Sommer singen da
die Amseln. Dann fliegen diese Zugvögel teilweise nach dem Süden.
Die Krähen aber kommen. Auch das ist schön.
... Die Jesuitenwiese geh ich
Großer Gesang aus Wien am Binsenstrom
Die Amseln brechen ab links rechts nach Süden. Krähen
Falln ein in dieses enge Land. Sind gern daheim.(93ff.)
Wenn die Krähen in Zeile 27f. ("...nordnordsüd zum Wörterdelta/
Da ja versammelt ward, was je die Krähen sprachen") sich auf die
Juden bezieht, so könnte "Krähen" hier in Zeile 96 bedeuten, daß
viele Juden nun wieder nach Österreich kommen, denn - trotz Holocaust
und schrecklicher Vergangenheit - sind sie "gern daheim." Die
Amseln, Zugvögel, könnten dann etwa die Touristen bedeuten. Bei
dieser Lesung stört mich allerdings, daß es heißt: "Krähen/ Falln
ein(28) in dieses enge Land" (95f.), was sehr leicht
negativ interpretiert werden könnte. Daß diese "Krähen" "gern
daheim" (96) sind und dieses Land lieben, auch wenn es "eng" (96)
ist im geographischen und vielleicht auch im übertragenen Sinn,
erscheint mir aber wieder ein sehr positives Bild.
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