|
Robert Schindels jugendliche Lyrik-Versuche in den fünfziger
Jahren rekurrierten auf Friedrich Schiller und Erich Kästner.
Die Abgründe eines "lebensechten" Humors empfand
er bei Christian Morgenstern. De facto war er - wie es seine (frühen)
biographischen Eckdaten nahelegen könnten - zu keiner Zeit
kruder Partei- oder Agitationsliterat.
Jeder schlagwortartigen Zuordnung entzieht sich die erste große
Prosa-Veröffentlichung Robert Schindels, "Kassandra",
die - zwischen November 1967 und Juli 1968 niedergeschrieben -
mit Anmerkungen der "Hundsblume"-Mitglieder Gustav Ernst
und Christof ubik im Oktober 1970 erschien. Der Text widersetzt
sich - so Gustav Ernst - "gängigen käuflichen Literaturprodukten",
aber auch einer vielgepriesenen Avantgarde des reinen ,Sprachemachens'.
Das Ergebnis ist - zwar explizit als politisch und mit dem revolutionären
Veränderungsimpetus der Zeit entworfen - in der Endsumme
einigermaßen kryptisch.
Nicht zufällig erscheint die Gattungsbezeichnung in Klammern.
Der gut 100 Seiten umfassende "(Roman)" besteht aus
zehn divergenten, nur teilweise direkt aufeinander bezogenen "Figuren"
und ihrer literarischen Nachbetrachtung in der "These 11:
Miriam". Autobiographische Bezüge zum Autor werden,
verwoben mit Erinnerungen an traumatische Kindheitserlebnisse,
besonders in der märchenhaften "Figur 3" greifbar,
des weiteren z. B. in den "Hundsblume"-Abschnitten 1
und 5 mit den verschlüsselten Künstlerfreunden ubik
(Maler Beethoven) und Ernst (Dichter Gans). Daneben herrscht großes
Rätselraten um zwei vexierbildhaft eingebrachte Frauengestalten:
Miriam, die (an Celans "Todesfuge" anknüpfende)
Geliebte, und die Troerin Kassandra, in "Figur 7" das
"Andere" im "Ich" des Erzählers.
Düster, apokalyptisch ist die Gesamtstimmung des fabellosen
"(Romans)", in dem die Bedrohung von außen und
innen kommt, historisch, gesellschaftspolitisch und überdeutlich
psychoanalytisch begründet, wozu als erläuternde Stichworte
reichen mögen: Judenvernichtung, Kapitalismus (Vietnam-Krieg,
TV-Gesellschaft) und Totschlag im ödipalen Dreieck. Die lebende
Kreatur wird gequält und quält selbst (aus welchem Antrieb
auch immer). Leben in einer von "Ausbeutern und Ordnungshütern"
beherrschten Gesellschaft ist Krieg vor dem Hintergrund eines
jederzeit möglichen Rollentauschs zwischen Unterdrückern
und Unterdrückten, Tätern und Opfern.
Interessant, hoch ambitioniert und mutig kann man das schmale
Frühwerk nennen, das aber überfragmentarisiert, zu heterogen,
kopflastig und mit seiner im Vorwort heraufbeschworenen Sehnsucht
nach einer "vernünftigen Mythologie" (Hölderlin
/ Schelling) alles in allem - und vermutlich damals wie heute
- eher befremdlich wirkt. Die künstlerischen Besonderheiten
des Texts relativieren diesen Eindruck nicht, sondern sind vielmehr
dessen Mitverursacher: die tendenziell aufgesetzten Ansätze
zu ästhetischen Reflexionen (im Gespräch mit den Freunden),
die gewollte Literarizität mit Goethe- und Kafka-Bezügen
sowie zahlreichen, zum Teil zitierenden Anklängen an die
lyrische Moderne (Baudelaire, Majakowski, Pavese, Tuwim, Neruda,
Brecht u. a.) und das bewußte Wagnis einer krassen Stil-
und Form-Mischung (Bibel-, Märchen- und Mythensprache, ,experimentelle'
Prosa, Aperçu, Miniaturerzählung, surreale Dialoge,
Groteske, Witz u. a.).
Obwohl das "(Roman)"-Experiment dem Leser somit kaum
nahebringen kann, was Gustav Ernst ihm in der Nachbemerkung zuspricht,
nämlich "Erfahrung zu radikalisieren, insofern die Prosa
als solche radikalisiert ist", beinhaltet es doch schon zahlreiche
formal-stilistische Komponenten (z. B. die Zersplitterung der
erzählerischen Darstellung), Grundthemen (zentral die Identitätsfrage)
und Motive, mit denen sich Schindel nach und nach zu einem unverkennbar
eigenständig-substanzvollen Prosaautor entwickelt.
Einen ersten Schritt in Richtung auf die künstlerische Geschlossenheit
seines Romans "Gebürtig" machte er 1969 mit der
Erzählung "Die Nacht der Harlekine". Thematisch
nimmt sie die psychologisierenden Milieustudien-Einsprengsel der
"Kassandra" auf und umkreist nach fiktiv-konzertantem
Aufbauprinzip und mit innerliterarischer Verwebungstechnik (vor
allem Bezugnahme auf das mittelalterliche Epos "Tristan und
Isolt") die Innen- und Außenwelt eines Eltern- und
Brudermörders, des "fremdsüchtigen", Camus
lesenden Mittelschülers Willi Tantris.
Zur Veröffentlichung gelangte die Tantris-Erzählung
erst sehr viel später als Titelgeschichte eines Prosa-Auswahlbandes
von 1994. Die Sammlung enthält vorwiegend ältere Texte,
von denen einzelne das Thema junger Gewaltverbrecher aus vorwiegend
kleinbürgerlichen Wiener Verhältnissen variieren (z.
B. "Die Rituale des Staatsanwalts" und "Lokalchronik")
- ein Sujet, das Schindel auch in seinem Collage-Hörspiel
"Franz Dörr" von 1968 streifte und das später
auch Elfriede Jelineks Roman "Die Ausgesperrten" (1980)
aufgreift, wobei Schriftstellerin wie Hörspielautor ihrer
beklemmenden Gesellschaftsanalyse mit genuin Wiener Lokalkolorit
den gleichen ,authentischen Fall' (Rainer Warchalowski) zugrunde
legten.
Die meisten Figuren der frühen Kurzprosa Schindels leiden
an existentieller Verunsicherung, an Angst und der Arroganz der
Macht (der Autoritäts- und Sprachgewaltigen). Die Beschreibung
von Zwängen und Leere des Sozialgefüges ist gepflastert
mit geschundenen Seelen und Körpern, verquickt mit den Abgründen
individueller Sexualität und der Gewalt der Geschlechterliebe
(Inzest, Ehebruch, Gattenmord). Im Geflecht dieser Aggressionen
und eines schleichenden wie offenen Wahnsinns steht der Dichter
mit den dichotomen Aufgaben, einer prinzipiell leeren Sprache
(und Welt) Sinn und Poesie zu verleihen und die Welt (und Sprache)
über ein Ich zu orten und ordnen, das selbst den beschriebenen
Verhältnissen ausgeliefert und von ihnen derart zerschlagen
ist, daß der Anspruch auf eine letzte Wahrheit des dichterischen
Unterfangens immer in Frage gestellt bleiben muß. Erträglich
wird diese Aufgabe für den Schriftsteller am ehesten in der
Rolle eines traurigen Spaßmachers, was Schindel in einer
"Gelächter am Bahnhof" betitelten "Story"
nahelegt, wobei wie in der Titelgeschichte und den Impressionen
des Kurzprosastücks "Commedia dell'arte" eine direkte
und eigenwillige Verbindung zur Tradition der italienischen und
Wiener Volkskomödie hergestellt wird (Harlekin und Kasperl).
Weniger experimentierfreudig als in der frühen Prosa zeigt
sich Schindel in seiner damaligen Lyrik, z. B. in der Auswahl
"Zwischen den Maulschellen des Erklärens" (1970)
mit Gedichten von 1968 bis 1970. Inhaltlich weist sie zahlreiche
Parallelen zum Erzählwerk auf und kündigt bereits die
Virtuosität und den Facettenreichtum späterer Gedichtbände
an. Doch verhaften noch viele Verse in zeittypischen (wenn auch
keineswegs unkritisch reflektierten) Links-Diskursen, und die
zuweilen bewußt derbe Ansprache transportiert oft kaum mehr
als antibürgerlichen Affekt (z. B. "Da hilft kein Vögeln
lieber Mann, kein Gähnen auf leeren Magen / Wirklich wir
müssen Mao Tsetung ernst nehmen, sonst sind wir im Arsch
daheim", aus "Flüche der Dinge und Ende").
Die Erlebniswelt dieses 68er-Ichs besitzt noch nicht die Fülle
und Plastizität des clownesken Melancholikers aus den Sammlungen
ab 1986, der traurig trinkt und bittersüß singt in
"Lieb"-, "Verrückte"-, "Trunkenlieb"-,
"Herbst"-, "Veilchen"-, in "Kälte"-,
"Nacht"- und "Klageliedern" (Titel aus "Ohneland",
1986, die zum Teil in zyklischer Manier auch in späteren
Gedichtbänden verwendet werden).
Ironisch ungebrochene Sentenzen wie etwa "Eingespannt im
Reflexionsmechanismus der leeren Worte / Karger Selbstbehauptungen,
spür ich den Blick des Privateigentums" ("Von den
Tathandlungen") vermitteln den Eindruck einer sprachlich
unausgegorenen Kopfpoesie. Recht plump erscheint auch eine Metapher
wie "Kiemen der Massenmedien"; dieses Zitat stammt aus
dem "Versuch über das Dennoch", den Schindel zusammen
mit anderen Gedichten aus den "Maulschellen des Erklärens"
in die Sammlung "Im Herzen die Krätze" (1988) übernahm.
Der Rückgriff auf frühere Texte erklärt somit einzelne
Schwächen und Sprödheiten des Bandes von 1988, die allerdings
auch noch, sukzessiv abnehmend, an späteren Gedichten zu
beobachten sind.
"Deine Texte werden immer jüdischer", zitiert der
Dichter (wahrscheinlich nicht ohne selbstironisch-tristen Wink)
"Leute" in "Ohneland", die "lächelnd"
mehr Abstraktheit, Verständlichkeit und vom "Boten"
unabhängige "Botschaft" einklagen ("Vom Indirekten
II"). Genau dieser Forderung widersetzt sich Schindel, er
beharrt auf einer eigenen, seinen Erfahrungen entsprechenden,
Neologismen hervortreibenden und gleichzeitig herkunftsgebundenen
Sprache (über deren Besonderheiten ein allen Buchausgaben
seit 1986 angehängtes ,Glossar' aufklärt). Er selbst
bestimmt seine literarischen Wahl- und Schicksalsverwandten, die
er dann auch in programmatischen, posthumen Widmungsgedichten,
Nachdichtungen, Erwähnungen und Anspielungen aufruft: Vorweg
Hölderlin, dann Heinrich Heine, Georg Trakl und Paul Celan.
Auch Rilke, Peter Huchel, Garcia Lorca gehören dazu. Der
herkunftsgebundene (Literatur-)Diskurs wird akzentuiert durch
die Berufung auf Ferdinand Raimund, Reinhard Prießnitz,
Helmut Qualtinger, auf den Schriftsteller und Liedermacher Georg
Kreisler und andere.
Konsequenterweise besteht der Lyriker darauf, sich nicht vorschreiben
zu lassen, welcher formalen Tradition er sich bedienen darf. Es
dürfen Lieder, Balladen, Elegien, Sonette, reimlose Gedichte
mit unregelmäßigen, bewußt sperrigen Rhythmen
oder dialektische (Polit-)Gedichte sein (wobei immer auch an Brecht
zu denken ist, und expressionistische wie pathetische Töne
nicht auszuschließen sind).
Im Unterschied zur vorangehenden Prosa lebt sich der lyrische
Harlekin zwischen "zuluste und zuleide" voll aus und
findet zu einer eigenen Sinnlichkeit, urban zwar, aber doch auch
deutlich naturverbunden. Deutlich ist sein Mitgefühl für
die sozial Ausgestoßenen und Mittellosen, entsprechend scharf
oft auch sein Blick auf die gesellschaftlich Mächtigen, die
Ewiggestrigen (Waldheim) und oberflächlichen Zeitgeist-Trendsetter.
Nur sich selbst kann er nicht abschütteln, weder seine Biographie,
die jüdische Herkunft, das Erinnern der alten und das Erleben
der neuen Geschichte, noch seine Liebe zu den Frauen, den Freunden
in der "Wortheimat" Wien, seine gewaltige Lebensgier
und seine Depressionen, das Ringen um Sprache.
Viel zu erfahrungsgetränkt und detailreich sind seine Gedichte,
um eingleisig sein zu können - vor allem deshalb, weil der
dichtende Narr dauerhaft im Paradoxen verweilt. Dem hat Walter
Jens in seiner Laudatio zur Verleihung des Erich-Fried-Preises
1993 mit dem treffenden, auf ein Schindel-Gedicht anspielenden
Satz Nachdruck verliehen: "Das poetische Ich Robert Schindels
gleicht einer Kunstfigur, die ständig ,ankommt', aber niemals
,landet', mit am Tisch sitzt und gleichwohl in der Tür steht".
Im Unterschied zur frühen "Kassandra" gelingt es
Schindel mit seinem Roman "Gebürtig" (1992), einen
lebendigen, epischen Kosmos zu entwerfen, der - wenn auch von
der Kritik mit höchst unterschiedlichen Noten bedacht - seinen
Ruf als Prosa-Schriftsteller zementiert. Tatsächlich beginnt
das sieben Hauptkapitel und über 350 Seiten umfassende Buch
widerspenstig mit einem poetisch aufgeladenen "Prolog",
in dem allerdings Gunhild Kübler "eine so noch nie gehörte
Sprache" vernahm. Der Leser muß sich dennoch bis weit
ins zweite Kapitel hinein gedulden, um dann in den Sog eines Romans
zu geraten, der aufs Ganze gesehen "glänzend, man möchte
sagen professionell komponiert" erscheint (Hubert Winkels).
Umgekehrt ist es gerade diese Komposition (Verschachtelung der
Erzählstränge und verschiedene Erzähl-Perspektiven),
die ein bequemes Eintauchen in Schindels Romanwelt verhindert.
Deren Dreh- und Angelpunkt ist Danny Demant, geboren 1941 als
Sohn exilierter österreichischer Kommunisten. Der Leser begegnet
ihm in der ersten Hälfte der achtziger Jahre als Lektor und
Angehörigem einer (vorwiegend jüdischen) "Beisl"-Boheme
in Wien.
Über seine Herkunft und Familiengeschichte berichtet Danny
seiner Freundin, der Ärztin Christiane Kalteisen, im 20.
Abschnitt des dritten Kapitels. Diese kurze Passage enthält
nicht nur biographische Parallelen zwischen dem Autor Schindel
und seinem ,Protagonisten', sondern kann auch als Schlüsselstelle
zum weiteren Romanverständnis gelesen werden.
Von der Geschichte der Wiener und österreichischen Juden
weiß die katholisch aufgewachsene Ärztin so gut wie
nichts. Es zeigt sich auch hier das im Roman randläufig thematisierte
Unverständnis, ja die Ignoranz eines starren Katholizismus
gegenüber Andersgläubigen und deren Schicksal. Doch
verwebt Schindel dieses Thema mit einem psychologischen Motiv,
nämlich der gleichzeitigen erotischen Anziehung zwischen
den sich fremden' Geschlechtern (dazu parallel in anderen
Erzählsträngen die amouröse Annäherung zwischen
der österreichischen Journalistin Susanne Ressel und dem
jüdischen USA-Exilanten Herman Gebirtig oder die ausgeprägte
Schwäche des Juden Emanuel Katz für blonde deutsche
Frauen). Die Fremdheit bleibt Siegerin, die Kluft zwischen Juden
und Gojim' auch noch in der Generation der Nachgeborenen'
bestehen - ein Thema, das auf nicht-fiktionaler Ebene virulent
ist auch in Peter Sichrovskys bekannt gewordener Dokumentation
"Wir wissen nicht was morgen wird, wir wissen wohl was gestern
war. Junge Juden in Deutschland und Österreich" von
1985.
Des weiteren impliziert Demants Herkunftsbericht, daß er
rein faktisch die Existenz eines Zwillingsbruders ausschließt,
eben jenes Alexander Demant (Sascha Grafitto), der im Roman als
erzählerischer Gegenspieler, als alter ego Dannys fungiert;
eine Aufspaltung, die nachhaltig die Illusion eines allwissenden
Erzählers zerstört und gleichsam einen existentiellen
Zwiespalt des Autors beschwört, schlicht gesagt, die Diskrepanz
zwischen Leben und Schreiben. Daß Alexander, wie es diese
und andere Romanstellen nahelegen, in Wirklichkeit nicht existiert
und dennoch im Geschehen aktiv präsent ist, mag ein faszinierender
Kunstgriff, aber auch Grund dafür sein, das erzählerische
Verwirrspiel zuweilen als überzogen bzw. als unglaubwürdig'
zu empfinden. Bleiben in dieser Hinsicht einige Fragen offen,
so lassen sich die weiteren, regelmäßig in wohlproportionierten
Einzelabschnitten gelieferten Erzählstränge und Handlungsebenen
eindeutiger fassen.
An erster Stelle ist dabei der Binnenroman zu nennen, der dem
Lektor Demant als fortlaufendes, aber nicht abgeschlossenes Skript
seines Freundes Emanuel Katz zur Begutachtung vorliegt. Erzählt
wird die Geschichte der Susanne Ressel, deren altkommunistischer
Vater und Spanienkämpfer seinen KZ-Peiniger Anton Egger,
mittlerweile ein unbescholtener österreichischer Pensionist',
auf einer Bergwanderung wiedererkennt und in dieser Aufregung
einen Herzinfarkt erleidet. Susanne treibt den Prozeß gegen
Egger voran und ist dabei auf die Aussage des Hermann Gebirtig
- jüdischer Mithäftling des Vaters im KZ Ebensee - angewiesen.
Es gelingt ihr, den zwischenzeitlich weltberühmten Schriftsteller
(und "Heimat"-Hasser) nach Wien zu holen. Der Exilant
muß hier einerseits seine tief verankerten Österreich-Ressentiments
aufgeben, andererseits kehrt er fluchtartig in die USA zurück,
als Egger freigesprochen wird. Rund um diesen Freispruch und das
Buhlen der Wiener Politik und Kultusbürokratie um den austro-amerikanischen
Starschriftsteller entwirft Schindel das pointierte Bild einer
halbherzigen, klatsch- und verdrängungssüchtigen, selbstbezogenen,
wenn nicht gar verlogenen (speziell Wienerischen) Gesellschaft
und knüpft somit an einen gängigen, z.B. von Thomas
Bernhard meisterhaft illustrierten Themenkomplex der österreichischen
Gegenwartsliteratur an.
Initiiert durch den Verfasser dieses Binnenromans entspinnt sich
ein weiterer Faden des Romangeschehens, die Geschichte des Hamburger
Publizisten Konrad Sachs, den Emanuel Katz auf Borkum kennenlernt.
Sachs ist, was nicht einmal seine Ehefrau Else weiß, der
Sohn eines berühmt-berüchtigten Nazi-Schergen, des "Generalgouverneurs"
von Polen. Vor allem in Träumen wiederkehrende Kindheitserinnerungen
quälen ihn so, daß er in eine tiefe Krise fällt,
seine Frau und Norddeutschland verläßt. Im Juden Katz
hofft er, einen Beichtvater zu finden, der ihn aber an Danny Demant
verweist. Dessen Rat, seine Biographie offenzulegen, befolgt er
und veröffentlicht - von seiner Seelennot befreit - das Buch
"Uwaga, der Prinz von Polen".
Mit der bei Katz und Gebirtig überdeutlichen Identitäts-Problematik
ist gleichsam das eigentliche (mit der Erzählkomposition
korrespondierende) Movens des Romans und seiner Hauptfiguren angezeigt.
Es betrifft Juden, Nichtjuden, Emigranten, Österreicher und
Deutsche, womit Schindel auch die (historischen und kulturellen)
Gemeinsamkeiten und Reibungsflächen zwischen der post-,kakanischen'
Heimat und dem benachbarten "Nordanien" beleuchtet.
Wirklich erlöst wird (bis auf Sachs) niemand. Politische
Ideologien haben ausgedient, und "verzeihen können nur
die Toten". Was bleibt, ist die Last der Geschichte, des
Lebens und ihrer immer wieder neu herausfordernden Deutungen.
Der Roman, der u. a. noch die bewegende Geschichte um die KZ-Insassinnen
Ilse Jacobsohn-Singer und Sonja Okun enthält, läuft
aus in einem großen Finale, dem "Verzweifelte"
überschriebenen "Epilog": Dannys Teilnahme als
Statist bei Aufnahmen zu einem amerikanischen ,Holocaust'-Film
im slawonischen Osijek, festgehalten im zutiefst ergreifenden
Tagebuch des Lektors.
Neben Tagebuchnotaten und Binnenerzählungen nutzt Schindel
die Formpalette des Erzählens souverän aus und transportiert
seine Inhalte des weiteren über Traumbeschreibungen, Märchen
und Briefwechsel; unverkrampft bewegt er sich im (an Dashiel Hammett
geschulten) Dialogischen, herausragend sind einzelne ,innere Monologe',
wie die des Hermann Gebirtig. Parallel- und Gegenführungen
bzw. Umkehrungen in den Erzählschemata und Personenkonstellationen
(z. B. die Figur des erfolgreichen deutschen Theatermanns Peter
Adel, dessen jüdische Herkunft in der Öffentlichkeit
unbekannt ist, als Gegenfigur zu Konrad Sachs) komprimieren die
bestechende Kunstfertigkeit des Romans, ebenso wie diverse Anspielungs-
und Zitierverfahren.
Zu letzteren gehört weniger der die Romanfigur Sachs betreffende
Rückgriff auf den Münchner Publizisten Niklas Frank,
der als Sohn des NS-Kriegsverbrechers und ,Königs von Polen'
Hans Frank gegen Ende der achtziger Jahre mit der autobiographischen
"Abrechnungs"-Schrift "Der Vater" Aufsehen
erregte. Weitaus subtiler legt Schindel die Fährten zur literarischen
Tradition, d. h. zu einem der geistig-kulturellen Zentren seines
Erzählens, in dem oben erwähnten Herkunftsbericht des
Protagonisten aus.
Es ist die Romanwelt Joseph Roths, in dessen "Radetzkymarsch"
(1932) der jüdische Regimentsarzt Demant über seine
Familie sagt: "Mein Großvater war ein Schankwirt; ein
jüdischer Schankwirt in Galizien. Galizien, kennen Sie das?"
Die Namensparallele, Dannys Aussagen über seinen Großvater
("Gastwirt") und Onkel ("jüdischer Regimentsarzt
in Galizien"), bis hin zu Christianes Frage "Wo liegt
Galizien?" machen den Roth-Bezug unzweifelhaft.
Freilich beläßt es der "Gebürtig"-Roman
nicht bei diesem Rückverweis auf Roth, der die mögliche
Klischeehaftigkeit seines Erzählpersonals mitreflektiert
("Alle Anekdoten enthielten jüdische Regimentsärzte").
Die geläufige Frage nach der Ästhetisierbarkeit des
Holocaust-Schreckens und dessen ,Aufarbeitung' berührt er
durch die Einbindung des "Ermittlungs"-Oratoriums von
Peter Weiss, das Peter Adel inszeniert und das gleichzeitig den
romaninternen Egger-Prozeß kontrastiert. Kluft und Nähe
zwischen (dokumentarischer) Kunst und Er-Leben sind untrennbar
im Osijek-Tagebuch, das an den späteren Spielberg-Film "Schindlers
Liste" erinnert, der in einer ergreifenden Schlußszene
die überlebenden Opfer der Filmgeschichte als Real-Überlebende
der Geschichte im Film zeigt; Anlaß, nebenbei auch auf Schindels
eigene Tätigkeit als Filmschauspieler und Drehbuchautor hinzuweisen
und darauf, daß er in Interviews erzähltheoretische
Ansätze auf Techniken des französischen Cinéasten
Jean-Luc Godard zurückführte.
Daß Komplexität und thematische Schwere den Roman nicht
erdrücken, liegt nicht zuletzt an Schindels maßvoll-feinfühligem
Humor, der auch die jüdische Seite in einem ironisch-kritischen
Bild zeigt. Dem Erfolg des Buchs im deutschsprachigen Raum folgten
Übersetzungen ins Amerikanische und Hebräische.
Mit dem Band "Ein Feuerchen im Hintennach" (1992) meldete
sich Schindel nach "Gebürtig" als Lyriker zurück.
Seine Verse sind mittlerweile weniger sperrig, leichtfüßiger,
das poetische Ich dennoch kein wesentlich anderes geworden. Nach
wie vor legt es den Frauen (minne- und bänkelsängerisch)
das traurig-lustige Herz zu Füßen, streift mit ihnen
durch Hamburg und Berlin, mit Celan im Kopf durch Paris, und freilich
immer wieder durch Wien, "einst Welthauptstadt des Antisemitismus",
nun Hauptstadt des Vergessens. Hierzu gelingt dem Dichter ein
bemerkenswertes Gedicht, "Vineta 1" - ein Glanzstück
Schindelscher Paradoxie und Ortsbestimmung, das beginnt: "Ich
bin ein Jud aus Wien, das ist die Stadt / Die heiße Herzen,
meines auch, in ihrem Blinddarm hat / Die schönste Stadt
der Welt direkt am Lethefluß / Ich leb in ihr, in der ich
soviel lachen muß". Und beschließt in der letzten
Strophe: "Ach diese Stadt ist nicht fürs Alpenglühen
da / Sondern sie lebt, wie ich, längst in Diaspora".
Wie immer Schindel solcherlei Ortsbestimmungen vornimmt, erzählerisch,
lyrisch oder in den Essays und Poetik-Vorlesungen des Bandes "Gott
schütz uns vor den guten Menschen" (1995): im Zentrum
spürt man den - wie es Heinrich Heine nannte - "großen
Judenschmerz".
|