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TEXTE zu
R. SCHINDEL
Essay von Volker Kaukoreit
aus dem KLG
   
 

Robert Schindels jugendliche Lyrik-Versuche in den fünfziger Jahren rekurrierten auf Friedrich Schiller und Erich Kästner. Die Abgründe eines "lebensechten" Humors empfand er bei Christian Morgenstern. De facto war er - wie es seine (frühen) biographischen Eckdaten nahelegen könnten - zu keiner Zeit kruder Partei- oder Agitationsliterat.
Jeder schlagwortartigen Zuordnung entzieht sich die erste große Prosa-Veröffentlichung Robert Schindels, "Kassandra", die - zwischen November 1967 und Juli 1968 niedergeschrieben - mit Anmerkungen der "Hundsblume"-Mitglieder Gustav Ernst und Christof Šubik im Oktober 1970 erschien. Der Text widersetzt sich - so Gustav Ernst - "gängigen käuflichen Literaturprodukten", aber auch einer vielgepriesenen Avantgarde des reinen ,Sprachemachens'. Das Ergebnis ist - zwar explizit als politisch und mit dem revolutionären Veränderungsimpetus der Zeit entworfen - in der Endsumme einigermaßen kryptisch.

Nicht zufällig erscheint die Gattungsbezeichnung in Klammern. Der gut 100 Seiten umfassende "(Roman)" besteht aus zehn divergenten, nur teilweise direkt aufeinander bezogenen "Figuren" und ihrer literarischen Nachbetrachtung in der "These 11: Miriam". Autobiographische Bezüge zum Autor werden, verwoben mit Erinnerungen an traumatische Kindheitserlebnisse, besonders in der märchenhaften "Figur 3" greifbar, des weiteren z. B. in den "Hundsblume"-Abschnitten 1 und 5 mit den verschlüsselten Künstlerfreunden Šubik (Maler Beethoven) und Ernst (Dichter Gans). Daneben herrscht großes Rätselraten um zwei vexierbildhaft eingebrachte Frauengestalten: Miriam, die (an Celans "Todesfuge" anknüpfende) Geliebte, und die Troerin Kassandra, in "Figur 7" das "Andere" im "Ich" des Erzählers.

Düster, apokalyptisch ist die Gesamtstimmung des fabellosen "(Romans)", in dem die Bedrohung von außen und innen kommt, historisch, gesellschaftspolitisch und überdeutlich psychoanalytisch begründet, wozu als erläuternde Stichworte reichen mögen: Judenvernichtung, Kapitalismus (Vietnam-Krieg, TV-Gesellschaft) und Totschlag im ödipalen Dreieck. Die lebende Kreatur wird gequält und quält selbst (aus welchem Antrieb auch immer). Leben in einer von "Ausbeutern und Ordnungshütern" beherrschten Gesellschaft ist Krieg vor dem Hintergrund eines jederzeit möglichen Rollentauschs zwischen Unterdrückern und Unterdrückten, Tätern und Opfern.


Interessant, hoch ambitioniert und mutig kann man das schmale Frühwerk nennen, das aber überfragmentarisiert, zu heterogen, kopflastig und mit seiner im Vorwort heraufbeschworenen Sehnsucht nach einer "vernünftigen Mythologie" (Hölderlin / Schelling) alles in allem - und vermutlich damals wie heute - eher befremdlich wirkt. Die künstlerischen Besonderheiten des Texts relativieren diesen Eindruck nicht, sondern sind vielmehr dessen Mitverursacher: die tendenziell aufgesetzten Ansätze zu ästhetischen Reflexionen (im Gespräch mit den Freunden), die gewollte Literarizität mit Goethe- und Kafka-Bezügen sowie zahlreichen, zum Teil zitierenden Anklängen an die lyrische Moderne (Baudelaire, Majakowski, Pavese, Tuwim, Neruda, Brecht u. a.) und das bewußte Wagnis einer krassen Stil- und Form-Mischung (Bibel-, Märchen- und Mythensprache, ,experimentelle' Prosa, Aperçu, Miniaturerzählung, surreale Dialoge, Groteske, Witz u. a.).
Obwohl das "(Roman)"-Experiment dem Leser somit kaum nahebringen kann, was Gustav Ernst ihm in der Nachbemerkung zuspricht, nämlich "Erfahrung zu radikalisieren, insofern die Prosa als solche radikalisiert ist", beinhaltet es doch schon zahlreiche formal-stilistische Komponenten (z. B. die Zersplitterung der erzählerischen Darstellung), Grundthemen (zentral die Identitätsfrage) und Motive, mit denen sich Schindel nach und nach zu einem unverkennbar eigenständig-substanzvollen Prosaautor entwickelt.

Einen ersten Schritt in Richtung auf die künstlerische Geschlossenheit seines Romans "Gebürtig" machte er 1969 mit der Erzählung "Die Nacht der Harlekine". Thematisch nimmt sie die psychologisierenden Milieustudien-Einsprengsel der "Kassandra" auf und umkreist nach fiktiv-konzertantem Aufbauprinzip und mit innerliterarischer Verwebungstechnik (vor allem Bezugnahme auf das mittelalterliche Epos "Tristan und Isolt") die Innen- und Außenwelt eines Eltern- und Brudermörders, des "fremdsüchtigen", Camus lesenden Mittelschülers Willi Tantris.

Zur Veröffentlichung gelangte die Tantris-Erzählung erst sehr viel später als Titelgeschichte eines Prosa-Auswahlbandes von 1994. Die Sammlung enthält vorwiegend ältere Texte, von denen einzelne das Thema junger Gewaltverbrecher aus vorwiegend kleinbürgerlichen Wiener Verhältnissen variieren (z. B. "Die Rituale des Staatsanwalts" und "Lokalchronik") - ein Sujet, das Schindel auch in seinem Collage-Hörspiel "Franz Dörr" von 1968 streifte und das später auch Elfriede Jelineks Roman "Die Ausgesperrten" (1980) aufgreift, wobei Schriftstellerin wie Hörspielautor ihrer beklemmenden Gesellschaftsanalyse mit genuin Wiener Lokalkolorit den gleichen ,authentischen Fall' (Rainer Warchalowski) zugrunde legten.
Die meisten Figuren der frühen Kurzprosa Schindels leiden an existentieller Verunsicherung, an Angst und der Arroganz der Macht (der Autoritäts- und Sprachgewaltigen). Die Beschreibung von Zwängen und Leere des Sozialgefüges ist gepflastert mit geschundenen Seelen und Körpern, verquickt mit den Abgründen individueller Sexualität und der Gewalt der Geschlechterliebe (Inzest, Ehebruch, Gattenmord). Im Geflecht dieser Aggressionen und eines schleichenden wie offenen Wahnsinns steht der Dichter mit den dichotomen Aufgaben, einer prinzipiell leeren Sprache (und Welt) Sinn und Poesie zu verleihen und die Welt (und Sprache) über ein Ich zu orten und ordnen, das selbst den beschriebenen Verhältnissen ausgeliefert und von ihnen derart zerschlagen ist, daß der Anspruch auf eine letzte Wahrheit des dichterischen Unterfangens immer in Frage gestellt bleiben muß. Erträglich wird diese Aufgabe für den Schriftsteller am ehesten in der Rolle eines traurigen Spaßmachers, was Schindel in einer "Gelächter am Bahnhof" betitelten "Story" nahelegt, wobei wie in der Titelgeschichte und den Impressionen des Kurzprosastücks "Commedia dell'arte" eine direkte und eigenwillige Verbindung zur Tradition der italienischen und Wiener Volkskomödie hergestellt wird (Harlekin und Kasperl).

Weniger experimentierfreudig als in der frühen Prosa zeigt sich Schindel in seiner damaligen Lyrik, z. B. in der Auswahl "Zwischen den Maulschellen des Erklärens" (1970) mit Gedichten von 1968 bis 1970. Inhaltlich weist sie zahlreiche Parallelen zum Erzählwerk auf und kündigt bereits die Virtuosität und den Facettenreichtum späterer Gedichtbände an. Doch verhaften noch viele Verse in zeittypischen (wenn auch keineswegs unkritisch reflektierten) Links-Diskursen, und die zuweilen bewußt derbe Ansprache transportiert oft kaum mehr als antibürgerlichen Affekt (z. B. "Da hilft kein Vögeln lieber Mann, kein Gähnen auf leeren Magen / Wirklich wir müssen Mao Tsetung ernst nehmen, sonst sind wir im Arsch daheim", aus "Flüche der Dinge und Ende"). Die Erlebniswelt dieses 68er-Ichs besitzt noch nicht die Fülle und Plastizität des clownesken Melancholikers aus den Sammlungen ab 1986, der traurig trinkt und bittersüß singt in "Lieb"-, "Verrückte"-, "Trunkenlieb"-, "Herbst"-, "Veilchen"-, in "Kälte"-, "Nacht"- und "Klageliedern" (Titel aus "Ohneland", 1986, die zum Teil in zyklischer Manier auch in späteren Gedichtbänden verwendet werden).

Ironisch ungebrochene Sentenzen wie etwa "Eingespannt im Reflexionsmechanismus der leeren Worte / Karger Selbstbehauptungen, spür ich den Blick des Privateigentums" ("Von den Tathandlungen") vermitteln den Eindruck einer sprachlich unausgegorenen Kopfpoesie. Recht plump erscheint auch eine Metapher wie "Kiemen der Massenmedien"; dieses Zitat stammt aus dem "Versuch über das Dennoch", den Schindel zusammen mit anderen Gedichten aus den "Maulschellen des Erklärens" in die Sammlung "Im Herzen die Krätze" (1988) übernahm. Der Rückgriff auf frühere Texte erklärt somit einzelne Schwächen und Sprödheiten des Bandes von 1988, die allerdings auch noch, sukzessiv abnehmend, an späteren Gedichten zu beobachten sind.

"Deine Texte werden immer jüdischer", zitiert der Dichter (wahrscheinlich nicht ohne selbstironisch-tristen Wink) "Leute" in "Ohneland", die "lächelnd" mehr Abstraktheit, Verständlichkeit und vom "Boten" unabhängige "Botschaft" einklagen ("Vom Indirekten II"). Genau dieser Forderung widersetzt sich Schindel, er beharrt auf einer eigenen, seinen Erfahrungen entsprechenden, Neologismen hervortreibenden und gleichzeitig herkunftsgebundenen Sprache (über deren Besonderheiten ein allen Buchausgaben seit 1986 angehängtes ,Glossar' aufklärt). Er selbst bestimmt seine literarischen Wahl- und Schicksalsverwandten, die er dann auch in programmatischen, posthumen Widmungsgedichten, Nachdichtungen, Erwähnungen und Anspielungen aufruft: Vorweg Hölderlin, dann Heinrich Heine, Georg Trakl und Paul Celan. Auch Rilke, Peter Huchel, Garcia Lorca gehören dazu. Der herkunftsgebundene (Literatur-)Diskurs wird akzentuiert durch die Berufung auf Ferdinand Raimund, Reinhard Prießnitz, Helmut Qualtinger, auf den Schriftsteller und Liedermacher Georg Kreisler und andere.
Konsequenterweise besteht der Lyriker darauf, sich nicht vorschreiben zu lassen, welcher formalen Tradition er sich bedienen darf. Es dürfen Lieder, Balladen, Elegien, Sonette, reimlose Gedichte mit unregelmäßigen, bewußt sperrigen Rhythmen oder dialektische (Polit-)Gedichte sein (wobei immer auch an Brecht zu denken ist, und expressionistische wie pathetische Töne nicht auszuschließen sind).

Im Unterschied zur vorangehenden Prosa lebt sich der lyrische Harlekin zwischen "zuluste und zuleide" voll aus und findet zu einer eigenen Sinnlichkeit, urban zwar, aber doch auch deutlich naturverbunden. Deutlich ist sein Mitgefühl für die sozial Ausgestoßenen und Mittellosen, entsprechend scharf oft auch sein Blick auf die gesellschaftlich Mächtigen, die Ewiggestrigen (Waldheim) und oberflächlichen Zeitgeist-Trendsetter. Nur sich selbst kann er nicht abschütteln, weder seine Biographie, die jüdische Herkunft, das Erinnern der alten und das Erleben der neuen Geschichte, noch seine Liebe zu den Frauen, den Freunden in der "Wortheimat" Wien, seine gewaltige Lebensgier und seine Depressionen, das Ringen um Sprache.

Viel zu erfahrungsgetränkt und detailreich sind seine Gedichte, um eingleisig sein zu können - vor allem deshalb, weil der dichtende Narr dauerhaft im Paradoxen verweilt. Dem hat Walter Jens in seiner Laudatio zur Verleihung des Erich-Fried-Preises 1993 mit dem treffenden, auf ein Schindel-Gedicht anspielenden Satz Nachdruck verliehen: "Das poetische Ich Robert Schindels gleicht einer Kunstfigur, die ständig ,ankommt', aber niemals ,landet', mit am Tisch sitzt und gleichwohl in der Tür steht".

Im Unterschied zur frühen "Kassandra" gelingt es Schindel mit seinem Roman "Gebürtig" (1992), einen lebendigen, epischen Kosmos zu entwerfen, der - wenn auch von der Kritik mit höchst unterschiedlichen Noten bedacht - seinen Ruf als Prosa-Schriftsteller zementiert. Tatsächlich beginnt das sieben Hauptkapitel und über 350 Seiten umfassende Buch widerspenstig mit einem poetisch aufgeladenen "Prolog", in dem allerdings Gunhild Kübler "eine so noch nie gehörte Sprache" vernahm. Der Leser muß sich dennoch bis weit ins zweite Kapitel hinein gedulden, um dann in den Sog eines Romans zu geraten, der aufs Ganze gesehen "glänzend, man möchte sagen professionell komponiert" erscheint (Hubert Winkels). Umgekehrt ist es gerade diese Komposition (Verschachtelung der Erzählstränge und verschiedene Erzähl-Perspektiven), die ein bequemes Eintauchen in Schindels Romanwelt verhindert. Deren Dreh- und Angelpunkt ist Danny Demant, geboren 1941 als Sohn exilierter österreichischer Kommunisten. Der Leser begegnet ihm in der ersten Hälfte der achtziger Jahre als Lektor und Angehörigem einer (vorwiegend jüdischen) "Beisl"-Boheme in Wien.

Über seine Herkunft und Familiengeschichte berichtet Danny seiner Freundin, der Ärztin Christiane Kalteisen, im 20. Abschnitt des dritten Kapitels. Diese kurze Passage enthält nicht nur biographische Parallelen zwischen dem Autor Schindel und seinem ,Protagonisten', sondern kann auch als Schlüsselstelle zum weiteren Romanverständnis gelesen werden.
Von der Geschichte der Wiener und österreichischen Juden weiß die katholisch aufgewachsene Ärztin so gut wie nichts. Es zeigt sich auch hier das im Roman randläufig thematisierte Unverständnis, ja die Ignoranz eines starren Katholizismus gegenüber Andersgläubigen und deren Schicksal. Doch verwebt Schindel dieses Thema mit einem psychologischen Motiv, nämlich der gleichzeitigen erotischen Anziehung zwischen den sich ‚fremden' Geschlechtern (dazu parallel in anderen Erzählsträngen die amouröse Annäherung zwischen der österreichischen Journalistin Susanne Ressel und dem jüdischen USA-Exilanten Herman Gebirtig oder die ausgeprägte Schwäche des Juden Emanuel Katz für blonde deutsche Frauen). Die Fremdheit bleibt Siegerin, die Kluft zwischen Juden und ‚Gojim' auch noch in der Generation der ‚Nachgeborenen' bestehen - ein Thema, das auf nicht-fiktionaler Ebene virulent ist auch in Peter Sichrovskys bekannt gewordener Dokumentation "Wir wissen nicht was morgen wird, wir wissen wohl was gestern war. Junge Juden in Deutschland und Österreich" von 1985.

Des weiteren impliziert Demants Herkunftsbericht, daß er rein faktisch die Existenz eines Zwillingsbruders ausschließt, eben jenes Alexander Demant (Sascha Grafitto), der im Roman als erzählerischer Gegenspieler, als alter ego Dannys fungiert; eine Aufspaltung, die nachhaltig die Illusion eines allwissenden Erzählers zerstört und gleichsam einen existentiellen Zwiespalt des Autors beschwört, schlicht gesagt, die Diskrepanz zwischen Leben und Schreiben. Daß Alexander, wie es diese und andere Romanstellen nahelegen, in Wirklichkeit nicht existiert und dennoch im Geschehen aktiv präsent ist, mag ein faszinierender Kunstgriff, aber auch Grund dafür sein, das erzählerische Verwirrspiel zuweilen als überzogen bzw. als ‚unglaubwürdig' zu empfinden. Bleiben in dieser Hinsicht einige Fragen offen, so lassen sich die weiteren, regelmäßig in wohlproportionierten Einzelabschnitten gelieferten Erzählstränge und Handlungsebenen eindeutiger fassen.
An erster Stelle ist dabei der Binnenroman zu nennen, der dem Lektor Demant als fortlaufendes, aber nicht abgeschlossenes Skript seines Freundes Emanuel Katz zur Begutachtung vorliegt. Erzählt wird die Geschichte der Susanne Ressel, deren altkommunistischer Vater und Spanienkämpfer seinen KZ-Peiniger Anton Egger, mittlerweile ein unbescholtener österreichischer ‚Pensionist', auf einer Bergwanderung wiedererkennt und in dieser Aufregung einen Herzinfarkt erleidet. Susanne treibt den Prozeß gegen Egger voran und ist dabei auf die Aussage des Hermann Gebirtig - jüdischer Mithäftling des Vaters im KZ Ebensee - angewiesen. Es gelingt ihr, den zwischenzeitlich weltberühmten Schriftsteller (und "Heimat"-Hasser) nach Wien zu holen. Der Exilant muß hier einerseits seine tief verankerten Österreich-Ressentiments aufgeben, andererseits kehrt er fluchtartig in die USA zurück, als Egger freigesprochen wird. Rund um diesen Freispruch und das Buhlen der Wiener Politik und Kultusbürokratie um den austro-amerikanischen Starschriftsteller entwirft Schindel das pointierte Bild einer halbherzigen, klatsch- und verdrängungssüchtigen, selbstbezogenen, wenn nicht gar verlogenen (speziell Wienerischen) Gesellschaft und knüpft somit an einen gängigen, z.B. von Thomas Bernhard meisterhaft illustrierten Themenkomplex der österreichischen Gegenwartsliteratur an.

Initiiert durch den Verfasser dieses Binnenromans entspinnt sich ein weiterer Faden des Romangeschehens, die Geschichte des Hamburger Publizisten Konrad Sachs, den Emanuel Katz auf Borkum kennenlernt. Sachs ist, was nicht einmal seine Ehefrau Else weiß, der Sohn eines berühmt-berüchtigten Nazi-Schergen, des "Generalgouverneurs" von Polen. Vor allem in Träumen wiederkehrende Kindheitserinnerungen quälen ihn so, daß er in eine tiefe Krise fällt, seine Frau und Norddeutschland verläßt. Im Juden Katz hofft er, einen Beichtvater zu finden, der ihn aber an Danny Demant verweist. Dessen Rat, seine Biographie offenzulegen, befolgt er und veröffentlicht - von seiner Seelennot befreit - das Buch "Uwaga, der Prinz von Polen".

Mit der bei Katz und Gebirtig überdeutlichen Identitäts-Problematik ist gleichsam das eigentliche (mit der Erzählkomposition korrespondierende) Movens des Romans und seiner Hauptfiguren angezeigt. Es betrifft Juden, Nichtjuden, Emigranten, Österreicher und Deutsche, womit Schindel auch die (historischen und kulturellen) Gemeinsamkeiten und Reibungsflächen zwischen der post-,kakanischen' Heimat und dem benachbarten "Nordanien" beleuchtet. Wirklich erlöst wird (bis auf Sachs) niemand. Politische Ideologien haben ausgedient, und "verzeihen können nur die Toten". Was bleibt, ist die Last der Geschichte, des Lebens und ihrer immer wieder neu herausfordernden Deutungen.
Der Roman, der u. a. noch die bewegende Geschichte um die KZ-Insassinnen Ilse Jacobsohn-Singer und Sonja Okun enthält, läuft aus in einem großen Finale, dem "Verzweifelte" überschriebenen "Epilog": Dannys Teilnahme als Statist bei Aufnahmen zu einem amerikanischen ,Holocaust'-Film im slawonischen Osijek, festgehalten im zutiefst ergreifenden Tagebuch des Lektors.

Neben Tagebuchnotaten und Binnenerzählungen nutzt Schindel die Formpalette des Erzählens souverän aus und transportiert seine Inhalte des weiteren über Traumbeschreibungen, Märchen und Briefwechsel; unverkrampft bewegt er sich im (an Dashiel Hammett geschulten) Dialogischen, herausragend sind einzelne ,innere Monologe', wie die des Hermann Gebirtig. Parallel- und Gegenführungen bzw. Umkehrungen in den Erzählschemata und Personenkonstellationen (z. B. die Figur des erfolgreichen deutschen Theatermanns Peter Adel, dessen jüdische Herkunft in der Öffentlichkeit unbekannt ist, als Gegenfigur zu Konrad Sachs) komprimieren die bestechende Kunstfertigkeit des Romans, ebenso wie diverse Anspielungs- und Zitierverfahren.

Zu letzteren gehört weniger der die Romanfigur Sachs betreffende Rückgriff auf den Münchner Publizisten Niklas Frank, der als Sohn des NS-Kriegsverbrechers und ,Königs von Polen' Hans Frank gegen Ende der achtziger Jahre mit der autobiographischen "Abrechnungs"-Schrift "Der Vater" Aufsehen erregte. Weitaus subtiler legt Schindel die Fährten zur literarischen Tradition, d. h. zu einem der geistig-kulturellen Zentren seines Erzählens, in dem oben erwähnten Herkunftsbericht des Protagonisten aus.

Es ist die Romanwelt Joseph Roths, in dessen "Radetzkymarsch" (1932) der jüdische Regimentsarzt Demant über seine Familie sagt: "Mein Großvater war ein Schankwirt; ein jüdischer Schankwirt in Galizien. Galizien, kennen Sie das?" Die Namensparallele, Dannys Aussagen über seinen Großvater ("Gastwirt") und Onkel ("jüdischer Regimentsarzt in Galizien"), bis hin zu Christianes Frage "Wo liegt Galizien?" machen den Roth-Bezug unzweifelhaft.
Freilich beläßt es der "Gebürtig"-Roman nicht bei diesem Rückverweis auf Roth, der die mögliche Klischeehaftigkeit seines Erzählpersonals mitreflektiert ("Alle Anekdoten enthielten jüdische Regimentsärzte"). Die geläufige Frage nach der Ästhetisierbarkeit des Holocaust-Schreckens und dessen ,Aufarbeitung' berührt er durch die Einbindung des "Ermittlungs"-Oratoriums von Peter Weiss, das Peter Adel inszeniert und das gleichzeitig den romaninternen Egger-Prozeß kontrastiert. Kluft und Nähe zwischen (dokumentarischer) Kunst und Er-Leben sind untrennbar im Osijek-Tagebuch, das an den späteren Spielberg-Film "Schindlers Liste" erinnert, der in einer ergreifenden Schlußszene die überlebenden Opfer der Filmgeschichte als Real-Überlebende der Geschichte im Film zeigt; Anlaß, nebenbei auch auf Schindels eigene Tätigkeit als Filmschauspieler und Drehbuchautor hinzuweisen und darauf, daß er in Interviews erzähltheoretische Ansätze auf Techniken des französischen Cinéasten Jean-Luc Godard zurückführte.

Daß Komplexität und thematische Schwere den Roman nicht erdrücken, liegt nicht zuletzt an Schindels maßvoll-feinfühligem Humor, der auch die jüdische Seite in einem ironisch-kritischen Bild zeigt. Dem Erfolg des Buchs im deutschsprachigen Raum folgten Übersetzungen ins Amerikanische und Hebräische.

Mit dem Band "Ein Feuerchen im Hintennach" (1992) meldete sich Schindel nach "Gebürtig" als Lyriker zurück. Seine Verse sind mittlerweile weniger sperrig, leichtfüßiger, das poetische Ich dennoch kein wesentlich anderes geworden. Nach wie vor legt es den Frauen (minne- und bänkelsängerisch) das traurig-lustige Herz zu Füßen, streift mit ihnen durch Hamburg und Berlin, mit Celan im Kopf durch Paris, und freilich immer wieder durch Wien, "einst Welthauptstadt des Antisemitismus", nun Hauptstadt des Vergessens. Hierzu gelingt dem Dichter ein bemerkenswertes Gedicht, "Vineta 1" - ein Glanzstück Schindelscher Paradoxie und Ortsbestimmung, das beginnt: "Ich bin ein Jud aus Wien, das ist die Stadt / Die heiße Herzen, meines auch, in ihrem Blinddarm hat / Die schönste Stadt der Welt direkt am Lethefluß / Ich leb in ihr, in der ich soviel lachen muß". Und beschließt in der letzten Strophe: "Ach diese Stadt ist nicht fürs Alpenglühen da / Sondern sie lebt, wie ich, längst in Diaspora".

Wie immer Schindel solcherlei Ortsbestimmungen vornimmt, erzählerisch, lyrisch oder in den Essays und Poetik-Vorlesungen des Bandes "Gott schütz uns vor den guten Menschen" (1995): im Zentrum spürt man den - wie es Heinrich Heine nannte - "großen Judenschmerz".

   
   
   
 
 
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